Reiske, Ernestine Christine (geborene Müller) - Leipziger Frauenporträts
Ernestine Christine Reiske, Kupferstich von Johanna Dorothea Philipp, geb. Sysang (ca. 1770) © Johann Jacob Reiske, Oratorvm Graecovm, Band 1, Leipzig 1770 Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Bildung/ Pädagogik
- Literatur
- Wirtschaft
geboren/ gestorben
2. April 1735 (Kemberg) - 27. Juli 1798 (Kemberg)
Zitat
"Der Fr. Prof. Reiske bezeuge ich meine aufrichtige Hochachtung nicht nur für ihre Gelehrsamkeit, die ihrem Geschlecht, unsrer deutschen Nation, und unserm ganzen Jahrhunderte, eine bleibende Ehre macht, sondern auch für den Eifer, mit dem sie ihren Mann vertheidigt hat."
(August Ludwig Schlözer, 1796)
Kurzporträt
Ernestine Christine Reiske, geborene Müller, war als Näherin selbstständig erwerbstätig und errang später als Gelehrte, Übersetzerin, Herausgeberin und Autorin Anerkennung. Auch als Landwirtin und Geschäftsfrau hatte sie wirtschaftlichen Erfolg.
Herkunftsfamilie
- Vater: August Müller (1679-1749), Propst und Superintendent in Kemberg
- Mutter: Eleonore Christine geboren von Nitzsch (1697-1780)
- neun Geschwister
Biografie
Ernestine Christine Reiske dachte, handelte und lebte als Frau des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich selbstbestimmt und selbstbewusst. 1735 wurde sie als jüngstes von zehn Kindern einer Pfarrersfamilie in Kemberg geboren. Durch ihren Vater und ihren Bruder Gottlieb, der nach dem Tod des Vaters 1749 auch ihr Vormund wurde, war sie in Geistes- und Naturwissenschaften unterrichtet worden. Ihre Biografen Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni konnten Unterweisung in deutscher Sprache, Religion und Philosophie, Geschichte und Kirchengeschichte, Geographie, Naturkunde und Mathematik nachweisen. Die Mutter führte sie in weibliche Arbeiten und Haushaltung ein, der Bruder in die Vokal- und Instrumentalmusik. Nach dem Tod des Vaters 1749 konnten die Mutter und die 14-jährige Ernestine zunächst im Pfarrhaus wohnen bleiben, da Gottlieb die Stelle des Propstes übernahm. Nach seiner Heirat zogen die Mutter und Ernestine 1756 in eine Mietwohnung und verdienten sich mit Näharbeiten für den gehobenen Bedarf selbstständig ihren Lebensunterhalt.
Ihren späteren Ehemann Johann Jacob Reiske (1716-1774), damals außerordentlicher Professor für Arabisch an der Leipziger Universität, lernte Ernestine Christine bereits 1755 kennen, als sie ihren Bruder Gottlieb nach Leipzig begleiten durfte. Anlass war die Aufnahme von Reiske und Gottlieb Müller in die "Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften" durch Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Den rasch begonnenen Briefwechsel brach Ernestine nach einem Heiratsantrag Reiskes ab. Als hübsches, junges Mädchen mit Bildung, gutem Benehmen und heiterem Charakter hatte sie trotz fehlender Mitgift schon mehrere Anträge bekommen und alle abgelehnt. Sie wollte ihre Selbständigkeit nicht aufgeben und die Mutter nicht unversorgt zurücklassen. Während des Siebenjährigen Krieges verschlechterte sich allerdings beider wirtschaftliche Lage. Die Mode hatte gewechselt; ihre genähten Manschetten und Volants waren nicht mehr gefragt. 1764 entschloss sich Ernestine zu einer Heirat mit dem fast 20 Jahre älteren Johann Jacob Reiske, nachdem dieser die Korrespondenz und seinen Antrag erneuert hatte. Als Rektor der Leipziger Nikolaischule hatte Reiske inzwischen seit 1758 ein festes Einkommen. Ernestine bewunderte ihn als Gelehrten und sah ihn als väterlichen Freund. Die Ehe blieb kinderlos. 1769 nahm das Ehepaar Reiske Ernestines dreizehnjährigen Neffen, dessen Mutter verstorben war, in den Haushalt auf und adoptierte ihn. Er starb 1775 als 19-Jähriger.
Die Mutter Müller führte die Wirtschaft und Ernestine wurde die "Gehilfin" ihres Mannes. Sie erlernte bei ihm in einem Jahr Griechisch, Latein, Französisch und Englisch. So geschult machte sie Abschriften, fertigte bald auch selbständig Übersetzungen an und half ihm bei der Vorbereitung seiner Manuskripte für den Druck. Die Herausgabe der griechischen Redner in Reiskes Übersetzung ermöglichte sie durch den Verkauf ihres Schmucks. Reiske bedankte sich im Vorwort des ersten Bandes ausdrücklich für ihre Mitwirkung. Wegen häufiger Erkrankungen Reiskes und aus Sparsamkeit nahm das Paar kaum am gesellschaftlichen Leben Leipzigs teil. Ernestine hatte sich ihr Leben als Rektorenfrau glanzvoller vorgestellt. Die gemeinsame Reise zur Herzog-August-Bibliothek nach Wolfenbüttel im Jahr 1771 brachte deshalb willkommene Abwechslung. Reiske ordnete in der Bibliothek die orientalischen Manuskripte und Ernestine verliebte sich mit bisher nicht gekannter Leidenschaft in den dortigen Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der in späteren Briefen an Reiske aber vor allem ihre Gelehrsamkeit lobte.
1774 starb Johann Jacob Reiske und wurde auf dem Johannisfriedhof beigesetzt. Aus einer von ihm initiierten Witwenkasse, in die er eingezahlt hatte, obwohl er seine Einnahmen sonst fast ausschließlich für neue Bücher, seltene Manuskripte und den Druck seiner Übersetzungen ausgab, erhielt Ernestine Reiske jährlich 250 Taler. Sie verließ die Schulwohnung noch vor der dreimonatigen Frist, die ihr als Witwe vom Rat der Stadt eingeräumt wurde, lebte aber bis zum Tod ihrer Mutter 1780 in Leipzig. Frau Reiske ordnete die Bibliothek ihres Mannes und korrespondierte mit vielen Gelehrten. Sie führte die von ihrem Mann begonnenen Editionsvorhaben weiter und bereitete neue Ausgaben aus seinem Nachlass für den Druck vor. Bald war sie auch im Verlagsbuchhandel Expertin und konnte durch genaue Buchführung und kluges Handeln als Geschäftsfrau ansehnliche Einnahmen aus Reiskes Erbe erzielen. Zu seinen Lebzeiten hatte Reiske die Bitte seiner Frau, ihn bei der Geschäftsführung unterstützen zu dürfen, aus traditionell männlichem Vorurteil stets abgelehnt.
In den Jahren nach dem Tod ihres Mannes hatte Ernestine Reiske auf Lessings Heiratsantrag gehofft, aber ihre Liebe wurde nicht erwidert. Erst nachträglich erfuhr sie von seiner Heirat mit einer anderen Witwe, seiner heimlichen Verlobten Eva König. Ernestine Reiske hatte schwere Depressionen, die zu einer Lebenskrise führten. In Briefen an Vertraute schrieb sie ungewöhnlich offen über ihre unerfüllte Leidenschaft und ihre Leiden. Durch die Bekanntschaft mit dem 20 Jahre jüngeren Studenten Christoph Moritz von Egidy in ihrer Dresdener Zeit 1780/81 fand sie Lebensmut und Tatkraft wieder. Sie pachtete ein Klostergut im Braunschweigischen (Bornum am Elm), wo beide bis 1791 lebten. Ernestine Reiske beschäftigte sich mit Landwirtschaft und Seidenraupenzucht, ohne ihre Buchhandelsinteressen und Korrespondenz zu vernachlässigen. Sie setzte von Egidy zum Erben ihres durch eigene Geschäftstüchtigkeit erworbenen Vermögens ein. Nach seiner Verheiratung mit einer jungen Frau wohnte sie ab 1791 in Braunschweig. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in ihrer Geburtsstadt Kemberg, wo sie mit 63 Jahren starb.
Werke
- Eine Rede des Libanius. Zum erstenmale aus einer Handschrift der Churfl. Bibliothek zu München abgedruckt. Leipzig 1755.
- Hellas. 1. Band, Mitau 1778, 2. Band. Mitau 1779.
- Zur Moral, aus dem Griechischen übersetzt. Dessau und Leipzig 1782.
- (Herausgeber) D. Johann Jacob Reiskens von ihm selbst aufgesetzte Lebensbeschreibung. Leipzig 1783.
Adressen in Leipzig
- 1764-1774: Nikolaischule am Nikolaikirchhof
- September 1775 bis 1780 (?): im Hause von Johann Christoph Pohl (1706-1780), Prof. d. Med., Hausarzt von J. J. Reiske, am Neuen Neumarkt
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Foerster, Richard, Ernestine Christine Reiske. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 28, 1889.
- D. Johann Jacob Reiskens von ihm selbst aufgesetzte Lebensbeschreibung. Leipzig 1783.
- Bennholdt-Thomsen, Anke und Alfredo Guzzoni, Gelehrsamkeit und Leidenschaft. Das Leben der Ernestine Christine Reiske 1735-1798. München 1992.
- Reiske, Ernestine Christine, Ausgewählte Briefe. St. Ingbert 1992.
- Gerlinde Kämmerer, Ernestine Christine Reiske (1735-1798), in: Gerlinde Kämmerer, Annett Pilz (Herausgeberinnen): Leipziger Frauengeschichten. Ein historischer Stadtrundgang, Leipzig 1995.
Autorin: Gerlinde Kämmerer, 2013