Vortrag: Identitätspolitik: Freiheitseinschränkung oder Freiheitsermöglichung? - Studium generale Ringvorlesung "Freiheit verstehen"
![Karsten Schubert Portrait eines Mannes](https://static.leipzig.de/fileadmin/_processed_/d/8/csm_Karsten-Schubert_c76acbce46.jpg)
Häufig wird behauptet, dass identitätspolitische ‚politische Korrektheit‘ und ‚Cancel Culture‘ die Freiheit einschränken. Doch stimmt das wirklich? Die Antwort, die man auf diese Frage findet, hängt stark davon ab, was man unter Freiheit versteht. Deshalb analysiert der Vortrag diese Kritik an ‚politischer Korrektheit‘ und ‚Cancel Culture‘ und das dabei zugrunde gelegte Freiheitsverständnis. Dabei zeigt sich: Der philosophische Kern dieses Freiheitsdenkens ist, Freiheit als das Recht des Stärkeren zu verstehen. Denn die Freiheitseinschränkung wird aus der Perspektive derjenigen kritisiert, die gesellschaftlich stark bzw. privilegiert sind. Es geht darum, dass sie ihre Freiheiten behalten können. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, denn ‚Verbotspolitik‘ ist nichts Wünschenswertes. Doch manche Freiheiten – gerade manche Freiheiten von Stärkeren – haben negative Auswirkungen auf andere. Beispielsweise ist es Freiheit, sexistische Witze machen zu können, ohne dafür sanktioniert zu werden – aber darunter leiden dann Frauen. Die Situation wird durch dieses Freiheitsverständnis also verzerrt und einseitig interpretiert. Diese Verzerrung funktioniert, weil Freiheit ein universeller Begriff ist – Freiheit hört sich immer an wie Freiheit für alle –, weshalb oft vergessen wird, dass Freiheit (für die einen) oft mit Einschränkungen (für die anderen) einhergeht. Der Vortrag zeigt, dass Identitätspolitik nicht zu einer generellen Freiheitseinschränkung für alle führt, sondern auf eine spezifische Einschränkung der Freiheit von Privilegierten zielt, mit der Diskriminierungen abgebaut werden. Und dies ermöglicht erst die Freiheit aller.
Dr. Karsten Schubert ist Associate Fellow am Lehrbereich Politische Theorie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen kritischen politischen Theorie und Sozialphilosophie: Radikale Demokratie, Identitätspolitik, Rechtsstaatlichkeit, queere und schwule Theorie sowie Michel Foucault. Seine Demokratietheorie der Identitätspolitik erscheint im Herbst unter dem Titel „Lob der Identitätspolitik“ bei C.H. Beck.
Zur Ringvorlesung: Freiheit verstehen. Herausforderungen und Perspektiven in einer liberalen Gesellschaft
Freiheit gehört zu den konstituierenden Werten der liberalen Gesellschaft. Das Versprechen, diese Freiheit für jede Bürgerin und jeden Bürger zu garantieren und zu wahren, gehört zum demokratischen Selbstverständnis. Immer wieder und immer häufiger hört man aber, „der Staat“ würde die Freiheiten des Bürgers beschneiden: Die zum Schutz der Bürger und Bürgerinnen erlassenen Gesetze und Verordnungen mutieren in den Reden der Populisten zu Zwangsmaßnahmen, die den grundrechtlich garantierten Freiheiten zuwiderliefen. Was ist das also für eine Freiheit, die hierzulande oft mit dem Begriff Wohlstand daherkommt?
Offenbar handelt es sich dabei meist um ein sehr individuelles Verständnis von Freiheit, das lediglich ein Freisein von Beschränkungen und Hindernissen meint. Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht um einen stark verkürzten Begriff von Freiheit handelt, der nur auf den ersten Halbsatz von Artikel 2 des Grundgesetzes zielt, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. In einer Gesellschaft ist eine solche Freiheit aber zwingend nur mit einer Einschränkung denkbar: Sie endet, wo die Rechte anderer verletzt werden. Der Begriff Freiheit bedeutet also sehr viel mehr als individuelle Handlungsfreiheit. Er geht einher mit Verantwortung, mit Rechten und Pflichten, und letztendlich ist Freiheit abhängig von einem Gemeinwesen, in das ein Individuum eingefügt ist.
Im Wissenschaftsjahr 2024, das der Freiheit gewidmet ist, wollen wir uns über politische, soziale und ökonomische Themen dem Begriff der Freiheit nähern, wobei zunächst wirkmächtige Konzepte von Freiheit grundlegend vorgestellt werden sollen. Im Anschluss daran soll Freiheit jeweils erörtert werden im Hinblick auf ihr Spannungsverhältnis unter anderem zum Recht, zum Eigentum, zu Repräsentation und Teilhabe in der Gesellschaft, zur Identitätspolitik, zu Arbeit und Armut beziehungsweise Reichtum.
Veranstaltungsort
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) - Trefftz-Bau
04277 Leipzig