Landgraf, Lydia Auguste Johanna - Leipziger Frauenporträts
Lydia Auguste Johanna Landgraf © Erich Zeigner Haus e.V.Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Widerstand gegen NS
- Zivilcourage
geboren/ gestorben
11. Oktober 1908 (Leipzig) - 3. Juni 2012 (Leipzig)
Zitat
"[...] eine stille Heldin von Leipzig."
(Jochen Leibel, 2003)
Kurzporträt
Johanna Landgraf gehört zu den wenigen Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland den Mut fanden, jüdischen Mitbürger/-innen und politisch Verfolgten zu helfen und deren Überleben zu sichern.
Herkunftsfamilie
- Vater: Karl Landgraf, Postbeamter
- Mutter: Lydia Landgraf, geborene Riese (gestorben um 1923), Hausfrau
- ein Halbbruder aus der 2. Ehe des Vaters: Siegfried Landgraf (1928-1979), Bäcker
Biografie
Nach der Volksschule besuchte Johanna Landgraf von 1923 bis 1926 die Handelsklasse der Städtischen Höheren Schule für Frauenberufe, die sie mit der Mittleren Reife abschloss. Diese Schule war aus der einst von Henriette Goldschmidt angeregten Pflichtfortbildungsschule für Mädchen hervorgegangen und hatte sich zur vielgestaltigsten höheren Mädchenbildungsanstalt in Deutschland entwickelt. Bis 1939 arbeitete Johanna Landgraf als Direktionssekretärin im Städtischen Gaswerk Leipzig. Berufsbegleitend besuchte sie 1927/28 die Abendschule, konnte diese aber nicht bis zum Abitur-Abschluss finanzieren, nahm 1938/39 an Abendkursen in englischer Kurzschrift teil, 1941 bis 1943 an Kursen in Buchhandelsbetriebslehre des Instituts für Zeitungswissenschaften der Universität Leipzig. Von 1939 bis 1945 verdiente sie als Korrespondentin für Englisch bei der Firma Theodor Althoff/Karstadt in Leipzig ihr Geld. Eng befreundet war sie mit Regina Boritzer, die aus jüdischer Familie stammte. (Ab 1922/1923 ist im Leipziger Adressbuch der Kaufmann Isaak Boritzer, Lindenau, verzeichnet, ab 1924 außerdem der Kaufmann Salomon Boritzer, Kleinzschocher.)
In den Jahren 1933 bis 1945, als in Deutschland die Nationalsozialisten regierten, fand die körperlich kleine Frau den Mut, aktiv Widerstand zu leisten. Durch Regina Boritzer war sie mit dem Juristen Dr. Erich Zeigner (1886-1949) bekannt geworden, der 1921 als sächsischer Justizminister, 1923 als sächsischer Ministerpräsident fungiert hatte und nun an der Bundesschule des Arbeiter-, Turn- und Sport-Bundes in Leipzig arbeitete.
Gemeinsam mit Dr. Zeigner und Pater Aurelius Arkenau (1900-1991) unterstützte Johanna Landgraf politisch Verfolgte und Juden beim Untertauchen und Überleben. Dabei spielte das Dominikanerkloster St. Albertus Magnus im Stadtteil Wahren eine wichtige Rolle, wo Pater Arkenau ab 1942 mehr als 100 Menschen versteckte. Aus dem Kreis der Geretteten wurden namentlich besonders bekannt die Jüdin Käthe Leibel und ihr Sohn Jochen, der Johanna Landgraf 60 Jahre später anlässlich eines Treffens zu ihrem 95. Geburtstag "eine stille Heldin von Leipzig" nannte. Nach der ersten Aufnahme im Kloster, wo der dreijährige Jochen aus Sicherheitsgründen getauft wurde, versteckte Johanna Landgraf die beiden bei ihr bekannten Familien und Freundinnen in Leipzig und Halle, holte für sie aus Berlin von Pater Arkenau organisierte neue Personalpapiere. Nach dem Krieg unterstützte sie Käthe Leibel bei der Wiedererlangung ihrer wahren Identität (nachzulesen im Buch "Der Brief...", siehe unten).
Der Name Boritzer ist ab 1939 nicht mehr im Leipziger Adressbuch auffindbar. Nach Mitteilung der Angehörigen ist anzunehmen, dass Johannas Freundin die Flucht aus Deutschland gelang. Nach dem II. Weltkrieg erhielt Johanna Post aus Israel, wahrscheinlich von Regina Boritzer; in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung flog sie dorthin. Genauere Auskünfte gibt es dazu nicht, ebenso wenig zur Familie von Regina Boritzer, was zeigt, wie viel Unklares es selbst bei einem gut erforschten Frauenleben der jüngsten Vergangenheit wie dem von Johanna Landgraf gibt.
Bis zu seinem frühen Tod 1949 war Dr. Zeigner der erste Nachkriegsbürgermeister von Leipzig, Johanna Landgraf seine Sekretärin. Danach arbeitete sie im Amt für Verkehrswesen der Stadt Leipzig, ab 1950 - nach dem Abschluss ihres Studiums an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig mit dem Wirtschaftsdiplom - als Verwaltungsleiterin im Dezernat für Volksbildung, später als Kreisreferentin für Jugendhilfe und Heimerziehung. Sie nutzte alle Möglichkeiten der Weiterbildung, schloss 1953 ihr Fernstudium als Unterstufenlehrerin am Institut für Lehrerbildung Altenburg ab, 1958 das Studium der Sonderpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Schon 1953 hatte sie die Verwaltung verlassen und war bis 1968 mit Leidenschaft als Lehrerin an der Hilfsschule West tätig. Hilfsschulen waren Sonderschulen für geistig behinderte oder lernbehinderte Kinder. Nach dem Eintritt in das Rentenalter arbeitete sie dort bis 1972 als Horterzieherin und bis 1988 als Schulsekretärin weiter. Johanna Landgraf liebte es zu wandern und zu reisen. Gern besuchte sie auch die Gewandhauskonzerte.
Anfang der 1980er Jahre zog Johanna Landgraf zur Pflege von Dr. Zeigners Witwe, Annemarie, geb. LeMang, in deren Wohnung Zschochersche Straße 21. Hier hatte Frau Zeigner bis zu ihrem Tod 1982 die originale Wohnungseinrichtung sowie den schriftlichen Nachlass ihres Mannes bewahrt. Diese Aufgabe übernahm nun Johanna Landgraf. Die Räume im Parterre links wurden ab ca. 1984 vom Stadtbezirkskabinett für Kulturarbeit Südwest genutzt, der unsanierte Wohnbereich rechts von Johanna Landgraf. Sie führte Gäste durch das Haus und sorgte mit Charme und Willenskraft dafür, dass das Andenken Erich Zeigners in der Öffentlichkeit präsent und die originale Wohnungseinrichtung im Haus erhalten blieb. Ab 1999 wurde sie dabei unterstützt vom neu gegründeten Erich Zeigner Verein.
Johanna Landgraf verstarb am 3. Juni 2012, mit 103 Jahren, in einem Seniorenheim. Vier gesellschaftliche Umbrüche hatte sie miterlebt und in allen Verhältnissen Menschlichkeit und Zivilcourage bewiesen.
Adressen in Leipzig
- 1909: Merseburger Straße 134, Parterre
- 1911-1921: Spittastraße 42, 2. Etage
- bis circa 1980/1981: Merseburger Straße 131
- bis 2003: Zschochersche Straße 21 (1945-1953 Carl-Goerdeler-Straße; 1953-1991 Philipp-Müller-Straße; heute Erich-Zeigner-Haus)
- 2003-2012: Altenpflegeheim "Sonnenschein", Demmeringstraße 131 A
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- http://www.erich-zeigner-haus-ev.de/.../
- Projekt und Publikation "Der Brief. Eine deutsch-französische Zeitreise von Jugendlichen auf der Suche nach dem Briefverfasser Martin Kober", herausgegeben vom Erich Zeigner Haus e. V. 2012.
- Seit 2014 Gedenktafel am Erich-Zeigner-Haus, Zschochersche Straße 21: "Hier wohnte/ Johanna Landgraf * 1908 † 2012 Eine stille Heldin/ Sie war eine lebensfrohe Frau. Zur Zeit der NS-Diktatur leistete sie selbstlos und aktiv Widerstand; indem sie für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie andere Verfolgte Verfolgte Verstecke organisierte. Sie rettete diese vor dem sicheren Tod, ungeachtet der Gefahr für das eigene Leben."
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- http://www.erich-zeigner-haus-ev.de/.../
(Projekt "Eine stille Heldin") - Helmut Warmbier: Pater Aurelius Arkenau O.P. 7. Januar 1990 - 19. Oktober 1991. Zeugnisse und Berichte über einen unerschrockenen Nothelfer in Leipzig-Wahren. Leipzig 1991.
Autorin: Gerlinde Kämmerer, 2014