Richardson, Henry Handel - Leipziger Frauenporträts
© Elliott and Fry (Photographers)
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Rubrik
- Literatur
- Musik
- Frauenbewegung
geboren/ gestorben
3. Januar 1870 (Melbourne) - 20. März 1946 (Fairlight, Sussex)
Zitat
"Sie waren wirklich eine komische Mischung, diese Sachsen. Hässlich, plump, ungeschickt und ohne jedes Benehmen, und doch waren sie die musikalischsten Menschen von der Welt. Musik schien ihnen im Blute zu liegen: Selbst die Bediensteten redeten darüber wie wir in England über Cricket oder Pferderennen."
(Henry Handel Richardson, Myself When Young, 1946, posthume Publikation 1948; Übersetzung Stefan Welz)
Kurzporträt
Henry Handel Richardson, die "Mutter der australischen Literatur", verbrachte als Klavierstudentin des Königlichen Conservatoriums drei sie prägende Jahre in Leipzig und verarbeitete diese Zeit in mehreren Publikationen, in denen die Themen Musik und die Stadt Leipzig eine Rolle spielen.
Herkunftsfamilie
- Vater: Walter Lindesay Richardson (1826-1879), Arzt
- Mutter: Mary, geborene Bailey (1835-1896)
- Schwester: Ada Lilian Neustätter/ Neill (1871-1944)
Biografie
Ethel Florence Lindesay Richardson, genannt Ettie, wurde am 03.01.1870 in Melbourne geboren. Das männliche Pseudonym Henry Handel wählte sie erst später, um ihre Chancen auf Veröffentlichungen in einer misogynen Gesellschaft zu verbessern. Ihre Jugend war überschattet vom frühen Tod des Vaters. Um die Ausbildung der Töchter zu sichern, nahm die Mutter eine Stelle als Post-Meisterin an. So konnte Ettie 1883-1887 das Presbyterian Ladies' College in Melbourne besuchen, wo sie früh durch ihre musikalisch-literarische Doppelbegabung hervortrat und vor allem für ihre Vertonungen englischsprachiger Gedichte große Anerkennung erfuhr.
1889 zog die Familie nach Leipzig, wo Henry Handel Richardson ein dreijähriges Klavierstudium am Königlichen Conservatorium für Musik begann. Diese 1843 vom Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy gegründete renommierte Einrichtung nahm von Anbeginn auch weibliche Studierende auf (siehe auch Ethel Smyth).
Zunächst wohnten die Richardsons zur Untermiete bei zwei älteren Damen. Eine davon erwies sich als wahrer Glücksgriff, da sie Ettie nicht nur die dringend benötigten Nachhilfestunden in Deutsch erteilte, sondern auch über Kontakte zum Conservatorium verfügte und eine Aufnahme in die Klasse des Klavierprofessors Johannes Weidenbach begünstigen konnte. Große Faszination übte auch die Nichte ihrer zweiten Vermieterin auf Ettie aus, da die Musiklehrerin und Liszt-Schülerin Elisabeth Morsbach häufig von ihrem berühmten Lehrer erzählte. Die dritte Wohnung lag im Musikviertel, das zu jener Zeit gerade erst erschlossen worden war; das Haus in der Mozartstraße fiel später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Am Konservatorium nahm Henry Handel Richardson neben den Klavierstunden Unterricht in Musiktheorie und Komposition bei Gustav Schreck, der ihr Talent schätzte; Ensemblespiel und Gesang bei Carl Reinecke schienen ihr weniger zugesagt zu haben, da sie hier vor allem durch Abwesenheit auffiel. 1890 lernte sie den Schotten John George Robertson (1867-1933) kennen, der an der Leipziger Universität in Deutscher Literatur promovierte. Ein Jahr später fand die Verlobung statt, 1895 die Hochzeit. Robertson teilte nicht nur Etties Begeisterung für die Musik Richard Wagners; er war es auch, der ihre Liebe zur Literatur aufs Neue entfachte und so entscheidenden Einfluss auf ihren Werdegang ausübte. Nach dem 1892 beendeten Musikstudium hatte sie den Wunsch, Konzertpianistin zu werden, aufgegeben. Auch die kurz angestrebte Karriere als Komponistin verfolgte sie nach einigen Unterrichteinheiten bei Ludwig Thuille in München nicht weiter. Stattdessen widmete sie sich ganz der Literatur und verarbeitete zahlreiche Erfahrungen aus ihrer Zeit als Musikstudentin in Leipzig in ihrem Debutroman Maurice Guest, der 1954 unter dem Titel Rhapsody mit Liz Taylor in der Hauptrolle verfilmt wurde; allerdings mit großen Eingriffen, darunter der Verlegung des Conservatoriums von Leipzig nach Zürich.
Die Jahrhundertwende führte das Paar nach London, wo John an den Lehrstuhl für Deutsche Literatur berufen worden war. Ab dieser Zeit sympathisierte Henry Handel Richardson mit der Suffragetten-Bewegung und trat gemeinsam mit ihrer Schwester für das Frauenwahlrecht ein. Im Jahr 1919 wurde Ettie bei einem Kinobesuch auf die 23 Jahre jüngere Stummfilmbegleiterin Olga Roncoroni (1893-1982) aufmerksam. Für ein Vierteljahrhundert sollte die junge Frau, die trotz psychischer Probleme nie den Humor verlor, ein fester Bestandteil im Leben Henry Handel Richardsons werden, als Begleiterin und Sekretärin, später als Krankenschwester und Vormund. Nach deren Tod 1946 verwaltete Roncoroni den Nachlass und zeichnete für posthume Veröffentlichungen verantwortlich.
1930 erhielt Henry Handel Richardson. die Australian Literature Society's Gold Medal für Ultima Thule, den letzten Teil ihrer Australien-Trilogie The Fortunes of Richard Mahony. Dieser war im Vorjahr mit finanzieller Unterstützung ihres Mannes erschienen, nachdem ihr Londoner Verlag das Manuskript zuvor abgelehnt hatte.
Nach dem Tod ihres Mannes 1933 löste sie ihren Londoner Haushalt auf und erwarb das kleine Anwesen Green Ridges nahe der Stadt Hastings, welches sie und Roncoroni wenige Monate später bezogen. Die Kriegsjahre ab 1940 waren geprägt von zunehmender finanzieller Not und Angst. Nur durch den Ärmelkanal vom besetzten Frankreich getrennt, lag die südenglische Küste in dem am stärksten von deutschem Bombardement betroffenen Korridor Englands. 1944 sprach die ehemalige Bewunderin deutscher Kultur für die BBC deutlich patriotische Abschnitte aus The Way Home ein.
Ihr Werk zeugt von einer lebenslangen Suche nach Identität zwischen Europa und Australien, zwischen Literatur und Musik. Neben einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Psyche und Sexualität ihrer weiblichen Charaktere zeichnet es sich durch eine multiperspektivische, geradezu modernistische Erzählweise aus.
Nach ihrem Tod am 20.03.1946 wurde ihre Asche gemäß ihren Wünschen mit der ihres Mannes im Meer verstreut.
Werke
Bücher
- Maurice Guest, London 1908 (deutsch. 1912).
- The Getting of Wisdom, London 1910.
- Australia Felix, London 1917.
- The Way Home, London 1926.
- The Fortunes of Richard Mahony, London 1929.
- The End of a Childhood, Erzählungen, London 1934.
- The Young Cosima, Heinemann London, 1939 und The Albatross, Leipzig 1939.
- Myself When Young, Autobiografie, London 1948. Artikel (Auswahl mit Bezug zu Leipzig)
- Music Study in Leipzig. In: The Lady, London 1895.
- The Magic of the New Concert Room. In: The Speaker, London 1897.
- The Story of Wagner and von Bülow - and the woman behind their music. In: Radio Times, London 1930.
Musik
- Lieder in deutscher, englischer, französischer, italienischer und dänischer Sprache.
- Symphonische Dichtung "Der Herbst" (unvollendet).
Adressen in Leipzig
- 1889: Lehmanns Garten 2, jetzt Teil des Dittrichrings
- 1889-1890 (?): Gottschedstraße 4, III. Etage: (bei) Morsbach, J. E., Privata
- 1891-1892: Mozartstraße 13, III. Etage: Richardson, M. Privata
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- Unter der Rubrik "Historischer Kalender" ist auf der Homepage der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" zum 25. April 1889 vermerkt, dass Henry Handel Richardson ihr dreijähriges Klavierstudium beginnt.
- Unter dem Titel "Abendunterhaltung mit H.H.R." fand am 23.10.2013 im Kammermusiksaal der Hochschule für Musik und Theater in der Grassistraße eine musikalische Lesung mit Texten und Liedern der Autorin statt.
- Am 10.10.2019 präsentierten Fabian Dellemann und Stefan Welz im literaturcafé im Haus des Buches Leipzig ihre vollständige Neuübersetzung von Maurice Guest. Die Schauspielerin Noëmi Krausz trug Passagen daraus vor, der Pianist Graham Welsh begleitete mit Musik aus der Entstehungszeit des Romans.
- Im Dezember 2020 erscheint Maurice Guest in der Übersetzung von Fabian Dellemann und Stefan Welz bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung als gebundene Ausgabe in zwei Bänden.
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Ackland, Michael: Henry Handel Richardson. A life. Cambridge University Press, Melbourne 2004.
- Ackland, Michael: Only 'a well-schooled interpreter': Henry Handel Richardson's Final Year at the Leipzig Conservatorium and Its Authorial Recasting. In: Australian Literary Studies, Volume 22, No. 1, 2005, Site 51-60.
- Ackland, Michael: Passion by Proxy: Henry Handel Richardson's Sapphic Investment in Her Early Fiction. In: Antipodes, Volume 18, No. 2, 2004, Site 147-152.
- Capon, Margaret: Olga Maria Roncoroni - A Last Link with Henry Handel Richardson. In: LiNQ, Volume 10, No. 3, 1982, Site 5-23.
- Dellemann, Fabian/Welz, Stefan (Herausgeber): Frühlingsouvertüre: zwei Kapitel aus dem Roman "Maurice Guest" von Henry Handel Richardson. Neu übers. von Fabian Dellemann und Stefan Welz. Connewitzer Verlags-Buchhandlung Peter Hinke, Leipzig 2011.
- Kneschke, Emil: Das Königliche Conservatorium der Musik zu Leipzig 1843-1893. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1893.
- Richardson, Henry Handel: Myself when young. An autobiography up to 1895, with a narrative of the years 1895 to 1903, written by Olga M. Roncoroni. Together with an essay on the art of Henry Handel Richardson by J.G. Robertson. London, Melbourne, Toronto 1948.
- Schmidt, Olaf: Komische Mischung, diese Sachsen. Fabian Dellemann und Stefan Welz über ihre Neuübersetzung von "Maurice Guest". kreuzer, Heft 11/2017.
- Welz, Stefan: Henry Handel Richardson: Australische Identitätskonstruktion zwischen Leipzig und London. In: Stefan Welz und Fabian Dellemann (Hrsg.): Anglosachsen. Leipzig und die englischsprachige Kultur. Peter Lang, Frankfurt am Main 2010.
- The Music. Bd. 1 Songs in English, Band 2. Songs in German, French, Italian and Danish. Ed. Bruce Steele und Richard Divall. Marshall-Hall Trust, Melbourne 1999.
- https://www.hmt-leipzig.de/hmt/bibliothek/hmtarchiv/historischer-hmt-kalender
Autor: Jörg Holzmann (2020)