Wigman, Mary (Karoline Sofie Marie Wiegmann) - Leipziger Frauenporträts
Mary Wigman 1922 © Fotografie von Jacob Merkelbach (1877-1942), Stadsarchief Amsterdam, Wikimedia, gemeinfrei Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Tanz/ Theater
geboren/ gestorben
13. November 1886 in Hannover - 18. September 1973 in Westberlin
Zitat
„Ich wurde Mary Wigman. Es gab den neuen deutschen Tanz. Und es gab ihn nur, weil Mary Wigman unentwegt ihren Weg ging, durch den Wechsel der Jahre und der Geschehnisse. Weil Mary Wigman Mary Wigman blieb. In all ihren Verwandlungen.“
(Selbstaussage in: Mary Wigman – Die Seele des Tanzes. Dokumentarfilm (ARTE) von Norbert Busé und Christof Debler, 2007.)
Kurzporträt
Mary Wigman gilt als Pionierin und Ikone des modernen Ausdruckstanzes, machte diesen im In- und Ausland populär und war stilprägend und inspirierend für Generationen von Tänzerinnen und Tänzern. Ihr umfangreiches Werk wird bis in die Gegenwart international rezipiert.
Herkunftsfamilie
- Vater: Heinrich Friedrich Wiegmann (16. November 1837-04. September 1896), Kaufmann (Fahrräder, Nähmaschinen, Kolonialwaren).
- Mutter: Amalie Wiegmann, geborene Jacobs (17. Februar 1857-23. August 1936).
- Stiefvater: Dietrich Wiegmann (16. November 1837-07. Mai 1918); Amalie Wiegmann heiratete den Zwillingsbruder des Vaters am 29. April 1898.
- Bruder: Bruno Wiegmann (? 1885-? 1887).
- Bruder: Heinrich Wiegmann (17. Februar 1890-24. Januar 1970); Kriegsinvalide des Ersten Weltkrieges.
- Schwester: Elisabeth Wiegmann (Wigman), (19. Dezember 1894 - ? 1981), Tanzpädagogin. (Von 1920 bis 1935 wirkte sie an der Wigman-Schule in Dresden als leitende Mitarbeiterin und Unterrichtende, wandte sich dann nach Leipzig, wo sie 1936 eine Schule für Gymnastik-Tanz in der Dufourstraße 6 eröffnete.)
Biografie
Marie Wiegmann wurde am 13.11.1886 in Hannover geboren. Als Spross einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie wilhelminischer Prägung besuchte sie die „Höhere Töchterschule“ und absolvierte Internatsaufenthalte in England und der Schweiz zwecks Erweiterung ihrer Sprachkenntnisse. Klavier- und (vielversprechender) Gesangsunterricht gaben den „letzten Schliff“ für die künftige Rolle als Gattin und Mutter. Aber Mary, voll Phantasie, Begeisterungsfähigkeit und unbändigem Bewegungsdrang, strebte nach Schöpfertum und Unabhängigkeit, nötigenfalls gegen alle Widerstände.
„Eines Tages wußte ich, daß ich tanzen mußte“, (aber nicht), „was mir als Tanz vorschwebte.“ 1908 erlebte sie den Begründer der rhythmisch-musikalischen Erziehung, Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950) bei einem Vortragsabend und absolvierte ab 1910, gegen den Willen der Familie, eine zweijährige Tanzlehrerausbildung mit Diplomabschluss an seiner „Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik“ in Hellerau. Ihr Körpergefühl wollte sich jedoch nicht der Musik unterwerfen und so tanzte sie für sich bald nur Improvisationen ohne Musik, aus eigenem Empfinden und innerer Notwendigkeit heraus. Während eines einjährigen Aufenthaltes in Rom studierte sie unter anderem die Abbildungen der Tänzerinnen auf den attischen Vasen, bewunderte deren „streng stilisiertes Gebundensein“ und die trotzdem „lebendig“ wirkenden Körper. Davon angeregt, sollte Wigman einen sehr eigenen Stil entwickeln.
1913 wurde sie Schülerin von Rudolf von Laban (1879-1958), einem Theoretiker des modernen, expressionistischen Tanzes auf dem Monte Verità im Schweizer Kanton Tessin, Wirkungsstätte zahlreicher Lebensreformer und Künstler, und blieb bis 1918 seine engste Mitarbeiterin. Ihr Solotanzdebüt als Mary Wigman fand am 14.02.1914 statt: „Hexentanz I“ und „Lento“ (ohne Musik – ein Novum in Europa!). Nach unterschiedlicher Aufnahme in der Schweiz erlebte sie 1919 bei ihrer ersten Deutschlandtournee Ablehnung und fast leere Säle. Zu neuartig, düster, mystisch und ekstatisch wirkten ihre Darbietungen, zu ungewohnt die streng-rhythmischen Bewegungen im leeren Raum. Ausgerechnet im reservierten Hamburg gelang der Durchbruch: „ …in diesem Augenblick wurde die Tänzerin M. W. erst wirklich geboren.“
Begeistert reagierte das Dresdner Publikum, was Wigman bewog, hier 1920 ihre weltbekannt werdende Schule zu gründen. Es folgten schaffensreiche Jahre als Solotänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin. Die Schülerschaft war so zahlreich wie international, unter ihnen spätere Berühmtheiten wie Harald Kreutzberg, Yvonne Georgi und Gret Palucca, die wiederum eigene Schulen gründeten. Wigman baute mehrere Tanzgruppen auf, mit denen sie gefeierte Tourneen durch Europa und Amerika unternahm. Der „New German Dance“ wurde zum Begriff. Ihre jährlichen Sommerkurse waren überlaufen und ihre Meisterschülerinnen leiteten Filialen der Wigman-Schule u. a. in Berlin, München, Hannover, Leipzig (1928-1931 – hier tanzte die kleine Gisela Uhlen) und New York.
Ende der 1920er Jahre ließen Boom und staatliche Förderungen nach. 1933 setzte das nationalsozialistische Regime neue Prämissen auch für den Kulturbetrieb. Die unpolitische Wigman versuchte anfangs durchaus, das Abgründige der Ideologie nicht durchschauend, diesen zu entsprechen. 1936 wurde ihr die Choreografie der „Totenklage“ zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin übertragen. Eine Huldigungschoreographie für Hitler lehnte sie 1937 allerdings ab. Ihre kompromisslose Art zu tanzen, galt zunehmend als nicht opportun und es wurden ihr nur noch Soloauftritte gestattet. Die Dresdner Schule wurde am 31.03.1942 verstaatlicht, sie selbst herausgedrängt.
Im Mai 1942 folgte Wigman, mittlerweile „unerwünschte Person“, einem Ruf des Oberbürgermeisters nach Leipzig, erhielt eine Gastdozentur an der Hochschule für Musik und wurde mit der Leitung der Tanzabteilung betraut. Ihr Wirken erfolgte nunmehr eher im Stillen, gleichwohl gewohnt engagiert. Trotz Krieg und Entbehrungen gestaltete sie mit ihren Schülerinnen mehrere Schulaufführungen. Im Juli 1943 kam in den „Drei Linden“ Orffs „Carmina Burana“ in der Choreographie Wigmans zur Aufführung. Am 27.02.1944 wurde die Hochschule durch Bombenangriffe zerstört; Wigman unterrichtete in der Schule ihrer Schwester weiter, ab Juni 1945 in der eigenen Wohnung. Not und Wirren der Nachkriegszeit begegnete Wigman mit der erneuten Eröffnung einer Schule. 1946 hielt sie in einer Rundfunkrede ein Plädoyer zur Einheit Deutschlands. Am 22.03.1947 fand die Premiere von „Orpheus und Eurydike“ am Leipziger Opernhaus statt, von Wigman inszeniert und choreographiert. Zunehmend jedoch wurde spürbar, dass auch die neuen Machthaber Einfluss auf Kultur und Lehre zu nehmen gedachten, ein Umstand, der Wigman am 04.07.1949 zur Ausreise nach West-Berlin bewog, nicht ohne maßgebliche Spuren für die Tanzentwicklung in Leipzig zu hinterlassen.
In ihrem Berliner Studio unterrichtete Wigman bis 1967, choreographierte und reiste unermüdlich in alle Welt, in drei Sprachen Vorträge und Workshops zum Ausdruckstanz haltend. Noch in den letzten Lebensjahren entstanden zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. Zunehmend mit Krankheit und Erblindung kämpfend, starb die „Priesterin des Tanzes“, die von der Bühne Abschied nahm „mit jene(m) leise(n) Lächeln, in dem man verzichten kann ohne zu resignieren“, am 18.09.1973 in Berlin und wurde im Familiengrab in Essen beigesetzt.
Werke
Solotänze (Tanz und Choreographie)
- 1914 Hexentanz I / Lento / Ein Elfentag.
- 1918 Marche orientale / Ekstatische Tänze.
- 1920 Polonaise (Liszt) / Tänze der Nacht.
- 1924 Die abendlichen Tänze (3 Elegien).
- 1925 Zur Gestaltenreihe der „Visionen“: Zeremonielle, verhüllte und spukhafte Gestalt.
- 1926 Zwei Monotonien: a Verhalten / b Drehend.
- 1926 Hexentanz II (Maskentanz; er gilt als Glanzstück der Wigman).
- 1927 Tanzlied für die Feier.
- 1927 Helle Schwingungen: Im großen Schwung / Zart fließend / Leicht spielend.
- 1927 Vier Tänze nach Balkanliedern.
- 1929 Zigeunerweisen (3 Tanzlieder).
- 1930 Tanz des Leides.
- 1931 Das Opfer (Zyklus).
- 1935 Schicksalslied.
- 1938 Drei Tänze nach polnischen Liedern.
- 1942 Tanz der Niobe.
- 1942 Sei still, mein Herz.
- 1942 Abschied und Dank. (Anm. d. Autorin: die letzte Aufführung ihres letzten Soloprogramms soll am 27. April in Leipzig stattgefunden haben.)
Gruppentänze (Tanz und Choreographie)
- 1920 (bis 1923) Die Feier I, Solo und kleine Gruppe: Gruß / Der Bann / Die Weihe / Lied.
- 1920 (bis 1923) Die sieben Tänze des Lebens. Tanzdichtung für Solo und kleine Gruppe von Mary Wigman. Musik: Heinz Pringsheim, UA im Opernhaus Frankfurt/Main.
- 1923 (bis 1924) Szenen aus einem Tanzdrama.
- 1926 Totentanz (Maskentanz).
- 1926 Raumgesänge.
- 1926 Suite nach russischen Liedern und Rhythmen.
- 1927 Die Feier II.
- 1929 Chorische Bewegung (3 Studien).
- 1930 Das Totenmahl.
- 1934 Frauentänze.
- 1936 Totenklage (mit 80 Tänzerinnen für das Festspiel Olympische Jugend anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin).
- 1943 Choreographie und szenische Ausgestaltung der „Carmina Burana“ von Carl Orff.
- 1946 Drei chorische Studien: Aus der Not der Zeit.
- 1947 Inszenierung und Choreographie der Oper „Orpheus und Eurydike“ von Willibald Gluck.
- 1953 Chorische Szenen, aufgeführt in Berlin und Festspiele Recklinghausen.
- 1954 Inszenierung und Choreographie des Szenischen Oratoriums „Saul“ von Georg Friedrich Händel, Nationaltheater Mannheim.
- 1957 Inszenierung und Choreographie „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky, Städtische Oper Berlin und Berliner Festwochen.
- 1961 Choreographie für die Oper „Orpheus und Eurydike“ von Willibald Gluck in der . Inszenierung von G. R. Sellner, Deutsche Oper Berlin und Berliner Festwochen.
- Ein ausführliches Werkverzeichnis ist unter https://www.sk-kultur.de/tanz/wigman/seiten/werke.html einzusehen.
Tanzpädagogik
- Gründung der Mary-Wigman-Schule in Dresden; Unterstützung bei dem Aufbau von Filialen in Deutschland, Europa und Übersee.
- Durchführung von jährlichen Sommerkursen.
- Schulungen und Vortragsreisen im In- und Ausland.
- Tanzpädagogische Schriften.
Bücher
- Mary Wigmans Choreographisches Skizzenbuch. 1930-1961. München – Leipzig – Mannheim – Berlin, hrsg. von Dietrich Steinbeck, Berlin 1987.
- Die sieben Tänze des Lebens. Tanzdichtung, Jena 1921.
- Komposition, Überlingen o. J. (1925).
- Deutsche Tanzkunst, Dresden 1935.
- Die Sprache des Tanzes, Stuttgart 1963; Neuauflage, München 1986.
- Bach, Rudolf und Wigman, Mary: Das Mary-Wigman-Werk, Dresden 1933.
- Gedichte; eine kleine Auswahl gibt Walter Sorell in seinem Buch „Mary Wigman. Ein Vermächtnis“, siehe unten.
- Tanzerlebnis und Tanzgestaltung, Hamburg 1953.
Adressen in Leipzig
- 1942-1949: Mozartstraße 17
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus Mozartstraße 17 seit 2010
- Nominierung Mary Wigmans als Delegierte zum „Ersten Deutschen Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden im sowjetischen Sektor“ durch die Leipziger Künstlerschaft 1947
- Verleihung des Professoren-Titels anlässlich Wigmans 60. Geburtstag 1946
- Im September 1946 wurde Wigman für die Gemeindewahlen in Leipzig nominiert und gemeinsam mit Ricarda Huch zur Ehrenpräsidentin der Frauenausschüsse der SBZ ernannt.
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Familienarchiv der Familie Mary Wigman im Deutschen Tanzarchiv Köln, Nachlässe und Sammlungen Signatur 109.
- Sammlung Mary Wigman, ehemaliger Bestand des Tanzarchives Leipzig, jetzt Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leipzig, NL 374.
- Mary-Wigman-Archiv der Akademie der Künste Berlin.
- Mary Wigman – Die Seele des Tanzes. Dokumentarfilm (ARTE) von Norbert Busé und Christof Debler, 2007. https://www.youtube.com/watch?v=k2hup8GHVMo
- Im Obersteg, Beatrice: Im Dialog mit Mary Wigmans „Hexentanz“. Künstlerische Recherche zu einer dialogischen Rekonstruktion, Saarbrücken 2015.
- Newhall, Mary Anne Santos: Mary Wigman, London 2009.
- Lazarus, Heide: Die Akte Wigman. Eine Dokumentation der Mary Wigman-Schule-Dresden (1920-1942), CD-ROM, Hildesheim circa 2005.
- Schwaen, Kurt: Erinnerungen an die Tänzerin Mary Wigman. Tagebuchaufzeichnungen, Erlebnisse, Briefwechsel, Berlin 2006. Vgl. auch https://www.kurtschwaen.de/schwaen/news_mitteilungen,Sonderheft_Wigman.html
- Fritsch-Vivié, Gabriele: Mary Wigman, Hamburg 1999.
- Rannow, Angela und Stabel, Ralf: Mary Wigman. Eine Künstlerin in der Zeitenwende, Dresden 2006. Neuauflage der Publikation Mary Wigman. Eine Annäherung an ihr Wirken für den Tanz in Leipzig in den Jahren 1942-1949, Leipzig 1994. (Anmerkung der Autorin: Hier kommt unter anderem auch die Leipziger Choreographin Irina Pauls zu Wort, die sich bis heute von Wigman inspiriert zeigt.)
- Müller, Hedwig: Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin. Hrsg. von der Akademie der Künste Berlin, Weinheim 1986, 1992.
- McDonald, Amy und Manning, Susan: Mary Wigman 1886 to 1973 – Symposium Ausdruckstanz, in: Dance Research Journal, 19, 1988, Seite 55-56, Cambridge 1988.
- Sorell, Walter: Mary Wigman. Ein Vermächtnis, Zürich 1986.
- Erlekamm, Hannelore: Mary Wigman 1886-1973. Katalog zur Ausstellung vom 7. September bis 19. Oktober 1986, Berlin 1986.
- Wigman, Mary: Tanz – leise, zärtlich, heftig, wild. Mit 8 Radierungen von Hermann Naumann, Leipzig 1984.
- Zivier, Georg: Mary Wigman, Harmonie und Ekstase, Berlin 1956. (Zum 70. Geburtstag von Mary Wigman von der Akademie der Künste gewidmet, deren Mitglied Wigman seit 1953 war.)
- Lindner, Kurt: Die Verwandlungen der Mary Wigman, Freiburg (Br.) 1929.
- Delius, Rudolf von: Mary Wigman, Dresden 1925.
- https://www.youtube.com/watch?v=AtLSSuFlJ5c (Mary Wigman tanzt den „Hexentanz“.)
- https://www.youtube.com/watch?v=37sEaUhFzpI (Mary Wigman tanzt die „ Pastorale“.)
- https://www.youtube.com/watch?v=oFCVWVaeevA („When the fire dances between two poles“, Mary Wigman 1886-1973. Film von Allegra Fuller Snyder, 1990.)
- Tanz unterm Hakenkreuz. Dokumentarfilm von Annette von Wangenheim, WDR 2003.
- https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Ernst_Ludwig_Kirchner,_Totentanz_der_Mary_Wigman,_1926-8.jpg (Anmerkung der Autorin: Zahlreiche Künstler, insbesondere die Maler der Künstlergruppe „Brücke“, fühlten sich von Persönlichkeit und Tanz der Mary Wigman zu Bildern inspiriert.)
- https://de.m.wikipedia.org/wiki/datei:ernst_ludwig_kirchner_-_die_tanzende_mary_wigman_-_1933.jpg
- https://www.artic.edu/artworks/150820/portrait-of-mary-wigman (Emil Nolde, 1920)
- https://www.sk-kultur.de/tanz/wigman/seiten/lebenslauf.html (Aufruf aller Links am 10.06.2022).
Autorin: Kerstin Kollecker, 2022