Gemeinsam mit der Bürgermeisterin aus Herzliya, die einige Tage in unserer Stadt weilt und vor dem Stadtrat eine sehr beeindruckende Rede hielt, besuchen wir die Gedenkstätte in Abtnaundorf, eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald, die an Zwangsarbeit und kaltblütigen Mord erinnert. Eine Ausstellung im Neuen Rathaus widmet sich mit bewegenden Dokumenten und Fotos dem dunklen Kapitel der Zwangsarbeit im „Dritten Reich“.
Auch der 67. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist kein Tag des Erinnerns wie andere: Er symbolisiert für die Überlebenden das Ende der genozidalen Politik des Nationalsozialismus. Für die Nachgeborenen ist er ein schmerzhaftes Menetekel, zugleich Beispiel für das, was Menschen Menschen antun können, fortwährende Mahnung an uns alle, eine Wiederholung dessen darf es niemals geben.
Die Studien zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sind mittlerweile so umfangreich, dass wir sagen können, wie die Dinge gewesen sind. Aber wir werden niemals die Erfahrung derjenigen teilen können, die sie erlitten haben. Die Überlebenden klagen oft über eine Sprachlosigkeit, die sie im Angesicht von Auschwitz überfallen hat. Ihnen fehlen die Worte, weil sie an Unaussprechliches und vorher nie Denkbares rühren müssen.
Dies ist vielleicht die eigentliche Herausforderung, die der heutige Tag an uns Nachgeborene stellt. Wir müssen Auschwitz in Worte fassen. Wir müssen das Ungeheuerliche erzählen. Die Erinnerung an dieses Ereignis muss leben, weil es hier um einen Bruch geht, der sich nicht schließen kann und nicht schließen darf. Weil die Kultur in diesem Land wissen muss, wie gefährdet sie ist und immer bleiben wird.
Der gefährlichste Feind des Gedächtnisses ist die Abstraktion! Es ist weniger wichtig, in anonymer und staatspolitisch aseptischer Weise der „Opfer des Nationalsozialismus“ zu gedenken, als immer wichtiger, Geschichten zu erzählen, ein Gesicht zu sehen, Gefühle dazu wahrzunehmen.
Der Holocaust ist nicht sechs Millionen, sondern Einer und Einer und Einer und Einer...
Die Augenzeugen dieser Zeit werden immer weniger, was aber, wenn diese nicht mehr unter uns sind? Dann müssen wir für die Zeugen zeugen.
Können wir das? Wer mit einem Gedächtnis lebt, trägt Geschichte und Geschichten in sich und will und muss diese Geschichten erzählen. Im Wege wird dabei nur die Abstraktion, das Allgemeine stehen.
Der 2004 verstorbene Rabbiner Albert F. Friedländer spricht es uns aus dem Herzen:
„Was während der Shoa, jenem Wirbelsturm der Vernichtung, der in Hitlers Deutschland 6 Millionen Juden tötete, geschehen ist, davon können wir nichts wissen, in dem wir ausschließlich von Fakten und Figuren und wissenschaftlichen Erklärungen hören. Darüber hinaus müssen wir jene dunklen Tage und brennenden Nächte auch berühren, fühlen, schmecken.
Unsere Herzen müssen sich in Schrecken und Schmerzen zusammenziehen. Unser Geist muss sich weiten, um Raum für das Unbegreifliche zu schaffen. Und unsere Liebe zum Gut des Lebens muss stark genug werden, um in diese Dunkelheit hineinzureichen und um in das Herz dieser Finsternis zu gelangen, um sie selbst zu erfahren.“
Ihr Burkhard Jung