Entscheidung fürs Leben
Unter seiner Ägide waren in den entscheidenden Jahren nach der Friedlichen Revolution die Fundamente für den Wiederaufstieg Leipzigs gelegt worden. Der Elan des Aufbaus, das Sich-Besinnen auf die eigene Kraft, die pragmatische Unaufgeregtheit, die Vertrauen einflößte und half, auch bei rauer See Kurs zu halten - all das ist unauflöslich mit seinem Namen verbunden. In einer historischen Umbruchsituation hatte er den Sprung aus den gesicherten Verhältnissen einer westdeutschen Kommune in den Osten gewagt. Seine Entscheidung für Leipzig war eine fürs Leben. Er stand für acht entscheidende Jahre an der Spitze dieser Stadt, und er hielt ihr als Ruheständler die Treue - geachtet und bewundert von den Bürgerinnen und Bürgern, für die er so viel getan hat.
Oberbürgermeister Burkhard Jung: "Hinrich Lehmann-Grube war für Leipzig ein unbeschreiblicher Glücksfall. Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren aufregend genug, da taten uns seine Unaufgeregtheit und seine große Erfahrung in Leipzig gut. Hinrich Lehmann-Grube hob nie den Zeigefinger, sondern er lebte Demokratie vor. Und er war immer bereit, Altbewährtes aus der Alt-Bundesrepublik beiseite zu wischen, wenn ihn in Leipzig jemand mit einer neuen Idee überzeugen konnte. Mit Hinrich Lehmann-Grube verliere ich auch persönlich einen wichtigen Ratgeber und Freund. Meine Gedanken sind bei seiner Familie."
Lehmann-Grube hatte, als er in der Nacht vom 19. auf den 20. März 1990 den entscheidenden Anruf von der jungen Leipziger SPD erhielt, ein gerüttelt Maß an Erfahrungen in bundesdeutscher Kommunalpolitik hinter sich. Der 1932 im ostpreußischen Königsberg Geborene und in Hamburg Aufgewachsene war von Hause aus Verwaltungsjurist, hatte für den Deutschen Städtetag gearbeitet, war in Köln Beigeordneter für Allgemeine Verwaltung gewesen und stand seit 1979 als hauptamtlicher Oberstadtdirektor gemeinsam mit dem ehrenamtlichen OB Herbert Schmalstieg an der Spitze von Leipzigs westdeutscher Partnerstadt Hannover. Nun fragten die Leipziger Parteifreunde, ob er in den Osten kommen und bei der Kommunalwahl als ihr Spitzenkandidat für den Posten des Oberbürgermeisters antreten wolle. Ob er die Stadt führen wolle, von der die friedliche Revolution ausgegangen war, die die SED-Diktatur beendete, die DDR-Gesellschaft ins Wanken brachte und letztlich zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten führen würde. Nach intensiven Beratungen im Familienkreis sowie nach Gesprächen mit dem Runden Tisch in Leipzig, der nach dem Rücktritt der SED-dominierten Verwaltungsspitze und der Selbstauflösung des Stadtparlaments die Stadt interimistisch regierte, sagte er zu. Er war bereit, für das höchste Amt in dieser Stadt zu kandidieren, die einmal schön und großartig war und dann verfiel durch vier Jahrzehnte Vernachlässigung - "Ist Leipzig noch zu retten?", fragte in jenen Tagen ein Beitrag des DDR-Fernsehens provokant.
Risiko des Scheiterns bewusst eingegangen
Was folgte, ist mittlerweile Legende. Um bei den Kommunalwahlen antreten zu können, tauschte der Mann aus dem Westen seinen bundesdeutschen Pass gegen den blauen DDR-Ausweis ein. Mit ihm gewann die Leipziger SPD eine relative Mehrheit im Stadtparlament, und am 6. Juni 1990 wählten ihn 88 der anwesenden 118 Stadtverordneten zum Oberbürgermeister. Hinrich Lehmann-Grube hatte im Wahlkampf überzeugt. Und das eben gerade nicht, weil er Wunder versprochen hätte, sondern weil er seinen Wählern klar zu verstehen gab: Es wird sehr, sehr schwierig werden. Wir stehen vor einer Situation, die man in mancher Hinsicht mit der unmittelbaren Nachkriegszeit vergleichen kann. Ich habe meine Erfahrungen aus Jahrzehnten der westdeutschen Kommunalpolitik. Aber ein Patentrezept habe ich nicht.
Dabei war die Situation, wie er bald im Einzelnen erfahren sollte, eigentlich katastrophal. Die Stadt war heruntergewirtschaftet: eine nahezu gelähmte Verwaltung, die Anfang 1991 - ohne das Geld aus der Staatskasse der nun nicht mehr existenten DDR - vor der Zahlungsunfähigkeit stehen sollte, viele Wohnungen verrottet, die Eigentumsfragen vieler Liegenschaften ungeklärt.
Die Wirtschaft, vor allem die Industrie, brach in den frühen 1990er Jahren zu großen Teilen weg, die Messe stand bald vor dem Aus. Er sei mit einem hohen Risiko des Scheiterns nach Leipzig gegangen, bekannte Lehmann-Grube später.
Für die Familie und das Bratschenspiel im Streichquartett blieb in diesen Aufbaujahren oft sehr wenig Zeit. Rückhalt fand Lehmann-Grube im Kreise der Angehörigen, besonders bei seiner Frau Ursula als seiner wichtigsten Vertrauten, bei Freunden und Mitstreitern. Lehmann-Grube inspirierte, forderte und erhielt Loyalität seiner Mitarbeiter - eben weil er vorlebte, was er von anderen verlangte, nüchtern und unpathetisch, mit geradezu preußisch zu nennendem Pflichtbewusstsein, Verlässlichkeit und Konsequenz. Er konnte zuhören wie kaum ein anderer und sich durch Argumente, wenn sie denn stichhaltig waren, auch umstimmen lassen. Das trug ihm auch die Achtung politischer Kontrahenten ein. Aber was er einmal als das Richtige erkannte, verfocht er, auch wenn es unpopulär war: Er redete den Leuten nicht nach dem Munde.
Persönlichkeit, die in Erinnerung bleibt
Kantig, durchaus auch unbequem, konsequent und dabei durch und durch pragmatisch, mit einem gar nicht so spröden Sinn für Humor, der immer genau auf den Punkt traf, und auch mit Freude am Karnevalstreiben - die hatte er aus seinen Kölner Zeit mitgebracht - , so wird er denen in Erinnerung bleiben, die ihn kannten. Sein strategischer Weitblick, sein Augenmaß und natürlich auch seine guten Verbindungen in die "alten Bundesländer" taten der Stadt gut.
Sein "Leipziger Modell", in dem nicht nach Parteienproporz entschieden, sondern über alle Fraktionsgrenzen hinweg die jeweils sachgerechteste Lösung drängender Probleme gesucht wurde, machte Schlagzeilen und brachte Erfolge für die Stadt. Bald drehten sich in Leipzig so viele Baukräne wie kaum anderswo. Richtungsweisende Entscheidungen fielen, etwa zur Verlagerung und Neuausrichtung der stark kriselnden Messe. Innerhalb von drei Jahren entstand am Rande der Stadt das modernste Messegelände Europas. Die Entwicklung Leipzigs zur Medienstadt wurde angestoßen, der Neubau des Museums der bildenden Künste im Herzen der Stadt auf dem damaligen Sachsenplatz wurde beschlossen.
Die 1991 gestartete Kampagne "Leipzig kommt!" war mehr als nur ein Slogan ‒ sie beschrieb eine Bewusstseinslage, und sie wurde Realität, trotz aller Wenns und Abers und Probleme. Seither hat sich vieles gewandelt - Bedingungen, Probleme, Mentalitäten. Es steht jedoch der Stadt gut an, sich auch angesichts neuer Herausforderungen an die Tugenden zu erinnern, die Hinrich Lehmann-Grube vorbildhaft gelebt und vermittelt hat.