Bisherige Preisträgerinnen und Preisträger Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ist mit 20.000 Euro dotiert. Bis 2004 wurden ein Hauptpreis (H) und ein Anerkennungspreis (A) vergeben.
- 2023: Maria Stepanova
- 2022: Karl-Markus Gauß
- 2021: Johny Pitts
- 2020: László F. Földényi
- 2019: Masha Gessen
- 2018: Åsne Seierstad
- 2017: Mathias Enard
- 2016: Heinrich August Winkler
- 2015: Mircea Cărtărescu
- 2014: Pankaj Mishra
- 2013: Klaus-Michael Bogdal
- 2012: Ian Kershaw und Timothy Snyder ex aequo
- 2011: Martin Pollack
- 2010: György Dalos
- 2009: Karl Schlögel
- 2008: Geert Mak
- 2007:Gerd Koenen und Michail Ryklin ex aequo
- 2006: Juri Andruchowytsch
- 2005: Slavenka Drakulic
- 2004: Dževad Karahasan (H) und Gábor Csordás (A)
- 2003: Hugo Claus (H) und Barbara Antkowiak (A)
- 2002: Bora Ćosić (H) und Ludvik Kundera (A)
- 2001: Claudio Magris (H) und Norbert Randow (A)
- 2000: Hanna Krall (H) und Peter Urban (A)
- 1999: Eric J. Hobsbawm (H) und Nenad Popović (A)
- 1998: Swetlana Alexijewitsch (H), Ilma Rakusa (A) und Andreas Tretner (Förderpreis)
- 1997: Imre Kertész (H) und Antonin J. Liehm (A)
- 1996: Aleksandar Tišma (H) und Fritz Mierau (A)
- 1995: Péter Nádas (H) und Swetlana Geier (A)
- 1994: Ryszard Kapuściński (H) und Eckhard Thiele (A)
Preisträgerin 2023: Maria Stepanova
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023 wird der russisch-jüdischen Autorin Maria Stepanova, die 1972 in Moskau geboren wurde und derzeit im deutschen Exil lebt, für ihren Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ verliehen.
Die Gedichtzyklen – so liedhaft wie erzählerisch – führen eindrücklich vor, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt. Der Band ist im Mai 2022 im Verlag Suhrkamp erschienen. Die viel gelobte Übertragung aus dem Russischen stammt von Olga Radetzkaja. Die Jury verweist in ihrer Begründung auch auf den Lyrikband „Der Körper kehrt wieder“ (2020) und den Roman „Nach dem Gedächtnis“ (2020).
In der Begründung der Jury heißt es:
„Den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023 erhält die russische Lyrikerin Maria Stepanova für die Unbedingtheit, mit der sie auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht. Unablösbar in der Gegenwart und in der russischen Sprache von Alexander Puschkin über Ossip Mandelstam bis Marina Zwetajewa verankert, ist ihr Werk zugleich ein Hallraum der Weltliteratur, in dem Dante, Goethe und Walt Whitman ebenso anwesend sind wie Ezra Pound, Inger Christensen und Anne Carson.“
Weiter schreibt die Jury: „In ihrem Zyklus „Mädchen ohne Kleider“ aus dem gleichnamigen Gedichtband nimmt sie den weiblichen Körper in Schutz gegen das Machtgefälle zwischen Betrachter und Objekt. Spielerisch greift sie in der Gedichtreihe „Kleider ohne uns“ auf den Formenkanon zurück und bettet die Kleidung als Chiffre des Lebens in einen perfekten Sonettkranz ein. Ähnlich wie in ihrem grandiosen Roman „Nach dem Gedächtnis“, der die eigene Familiengeschichte mit dem Rückblick auf den Stalinismus und den Zerfall der Sowjetunion verschränkt, betritt Stepanova im Zyklus „Bist du Luft“ das Reich der Toten. Ihr lyrisches Ich spricht in ein Grab hinein und verschmilzt mit der Kindheitslandschaft. In den Tiefenschichten lagern auch die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts und die Knochen der Gefallenen.“
Und: „Stepanovas Lyrik ist wie ihre Prosa und Essayistik Arbeit am Gedächtnis. Sie folgt den Spuren namenloser Toter, fördert das Unerzählte zutage, schlägt ironische Haken und widersetzt sich jeder Art von Parolen. Auch wenn Maria Stepanova in ihren Gedichten in den Abgrund schaut, bleibt ihre große Hoffnung die Sprache. Sie verhilft dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden.“
Der Preisträger 2022: Karl-Markus Gauß
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 wird dem österreichischen Schriftsteller und unermüdlichen Aufklärer Karl-Markus Gauß für sein Buch „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“ verliehen. Das Buch versammelt feinfühlige Geschichten von besonderen Orten und Menschen in Europa. Es erschien im Oktober 2020 im Paul Zsolnay Verlag Wien. Die Preisverleihung fand am 16. März 2022 in der Nikolaikirche Leipzig statt. Die Laudatio hielt die österreichische Germanistin, Literaturkritikerin und Essayistin Daniela Strigl.
In der Begründung der Jury heißt es:
Europa? Euroskeptiker denken bei der immer wieder von Krisen geschüttelten Europäischen Union an eine Verfallsgeschichte. Europhile denken an eine Erfolgsgeschichte des Zusammenwachsens, an den größten Binnenmarkt der Welt, eine stabile Gemeinschaftswährung, einen Forschungsraum von gewaltiger Innovationskraft. Eurorealisten sehen beides, den beeindruckenden Bau "Europa" wie die Risse im Gebälk.
Wenn Karl-Markus Gauß an Europa denkt – und wahrscheinlich gibt es keinen Schriftsteller in Europa, der öfter und nachhaltiger über dieses unauslotbar vielfältige Gebiet westlich von Russland nachdenkt –, dann denkt er über die Minderheiten nach, die sich immer noch in den Rissen dieses umstrittenen Gebäudes halten: über die Bewohner der Zips und der Batschka, über die chaldäischen Christen in der syrisch-orthodoxen Kirche, die sich Assyrer nennen und möglicherweise im Nebenhaus wohnen, über die Aromunen, die eine eigenständige Sprache sprechen und im Norden Griechenlands, in Bulgarien, Nordmazedonien und Albanien leben, oder über die Roma, die in der Slowakei und überall da zu finden sind, wo man nicht nur die Paragrafen der Ausgrenzung, sondern die (ungeschriebenen) Gesetze der Gastfreundschaft kennt und ihnen einen Platz anbietet.
Alle diese Minderheiten mit ihren seltsamen Sitten, Sprachen, Gebräuchen, Literaturen und Religionen haben in Karl-Markus Gauß, der selbst aus einer sogenannten donauschwäbischen Familie kommt, ihren unermüdlichen, treuen, neugierigen, aufmerksamen Chronisten gefunden. Seit mehr als vierzig Jahren nimmt dieser für seine stilistischen Feinheiten gelobte, jedes besserwisserische Pathos meidende Reisende die kulturellen Verluste (besonders in Südosteuropa) wahr und hält ihnen den historisch angehäuften tatsächlichen Reichtum entgegen. Er leistet die Arbeit eines Sisyphos – das heißt, er weiß auch, dass trotz aller Anstrengungen der mühsam auf den Berg geschleppte Stein wieder hinunterrollt.
Wenn er nicht unterwegs ist, schreibt er in Salzburg Reiseberichte über seine unaufhörlichen Wanderungen, die in mehr als zehn Büchern vorliegen, oder er redigiert die literarische Zeitschrift „Literatur und Kritik“, die er schon seit mehr als dreißig Jahren herausgibt. Und wenn er mal das Haus hüten muss, dann begibt er sich auf eine „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“, eines seiner großartigen Bücher. Und da er offenbar wenig schläft, schreibt er auch noch umfangreiche Journale, die einen politisch wachen, parteipolitisch ungebundenen Zeitgenossen zeigen, der gottlob über so viel Ironie und Witz verfügt, dass man sich von ihm gerne in die Abgründe unserer Gesellschaft einführen lässt. Denn kaum einer hat sich so klar gegen Rechtspopulismus ausgesprochen und sich so deutlich für eine humane Flüchtlingspolitik eingesetzt.
Mit der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung wird ein großer europäischer Schriftsteller ausgezeichnet, der die glanzvolle Reihe mitteleuropäischer Preisträger von Aleksandar Tišma bis Claudio Magris fortführt."
Der Preisträger 2021: Johny Pitts
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2021 wird dem britischen Essayisten, Schriftsteller und Fotografen Johny Pitts für sein Buch "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa" verliehen. In diesem nachdenklichen Buch verknüpft Johny Pitts Reportagen und literarische Essays zu einem zeitgenössischen Portrait auf der Suche nach seiner postkolonialen Identität. Es erschien im September 2020 bei Suhrkamp in Berlin. Helmut Dierlamm hat das Werk aus dem Englischen übersetzt.
In der Begründung der Jury heißt es:
"Johny Pitts ist ein Bricoleur, ein erleuchteter, menschenfreundlicher Bastler im Lévi-Strauss'schen Sinne, einer, dessen Wahrnehmung nicht von Auftrag und Ideologie geprägt ist, einer, der im besten Sinne kontinuierlich an seinem Weltbild bastelt. Mit wenig Geld und einem Interrail-Ticket hat er sich aus den industriellen Brachen Nordenglands auf den Weg gemacht, um in den Metropolen Europas jener Lebenserfahrung nachzuspüren, die er gleichsam versuchsweise als 'afropäisch' bezeichnet. Es ist eine Reise in die schwarze Diaspora, eine Reise ins 'inoffizielle' Europa, unter Menschen, deren unsicherer, harter Alltag meist unbemerkt bleibt. Selbst Sohn einer weißen Arbeiterin aus Sheffield und eines schwarzen Soul-Sängers aus New York, dessen Mutter noch auf den Feldern South Carolinas Baumwolle pflückte, lässt er seine nachdenkliche, einfühlsame Reportage auch zu einer Suche nach der eigenen Identität werden."
Die afropäische Erfahrung sei nicht monolithisch, sie sei vielfältig, widersprüchlich und schwer zu greifen, sie sei stets unsichtbar und unklar, ein notdürftig mit Bindestrichen zusammengehaltenes postkoloniales Phänomen. "Johny Pitts' Versuch, aus dem Disparaten ein kohärentes Bild zusammenzusetzen, ist eine von Hoffnung und Melancholie getragene Bricolage. Der Blick, mit dem er die Menschen und ihre Lebensgeschichten aufnimmt, macht sie sichtbar und schenkt ihnen Würde. 'Afropäisch' ist ein großes, auf fruchtbare Weise unfertiges Werk, das sein Autor, so ist es zu hoffen, fortsetzen wird. Es wäre uns allen, und Europa, zu wünschen", schreibt die Jury weiter.
Der Preisträger 2020: László F. Földényi
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 wird dem ungarischen Essayisten, Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer László Földényi für sein Buch "Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften" verliehen. Das nachdenkliche Buch beschreibt in einem feinen Gewebe von Essays eine vieldeutige Stimmung und verwehrt sich schnellen Antworten. Es erschien im April 2019 bei Matthes und Seitz Berlin. Akos Doma hat das Werk aus dem Ungarischen übersetzt.
Die Preisverleihung an László Földényi wird aufrgund der pandemiebedingtren Absage der Leipziger Buchmesse 2020 auf das Jahr 2021 verschoben.
In der Begründung der Jury heißt es:
"Ein verstörendes, wenig segenreiches Phänomen unserer Zeit ist das des 'Checkertums', die Haltung des stets durchblickenden, aktionsbereiten Machers. Der Checker weiß genau, wie's geht, ob in puncto Migrationspolitik und Grenzbefestigung, Klima, Handelsabkommen, Minderheiten, nie ist er um eine Antwort verlegen, Grübeln ist verpönt, Kompromisse schließen heißt Kapitulation. Und doch verbirgt sich hinter diesem Aktionsdiktat oftmals eine hässliche Leere, in die mit gefährlicher Konsequenz ein ideologischer Absolutismus zu schießen vermag, ein Denken, das wenig Raum für Anderes, kaum Platz für Andere lässt.
In einer beglückend unzeitgemäßen Volte hat László Földényi sich der Melancholie verschrieben. Er hat sie über Jahrzehnte in großen geistesgeschichtlichen Studien erforscht und sie uns dabei in einer wunderbaren Paradoxie als produktiven Zustand offenbart, als zutiefst lebensbejahende Haltung. Der melancholische Mensch kapituliert nicht, er hält den Blick auf das Unlösbare gerichtet und bringt so den ewigen Kern unserer Existenz zur Anschauung, das zutiefst Widersprüchliche. Es ist der Blick auf das Leben als 'hauchdünne Membran', als durchlässige Umgrenzung, nicht Bollwerk. Durchlässig auch für Zivilisation und Barbarei.
In Földényis ungemein anregendem, reichem Werk offenbart sich die Welt als fortwährendes Rätsel, das Hinwendung und Aufmerksamkeit verlangt. Und in eben dieser Aufforderung zur beharrlichen schöpferischen Anteilnahme - auch wenn sie keine Lösungen verspricht - liegt der mögliche zarte Triumph des Lebendigen."
Die Preisträgerin 2019: Masha Gessen
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019 wird der russisch-US-amerikanischen Journalistin und Schriftstellerin Masha Gessen für ihr Buch "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor" verliehen. Das Buch, das vielschichtig die postsowjetische Gesellschaft beschreibt, erschien im November 2018 im Suhrkamp Verlag. 2017 erhielt Masha Gessen für dieses Buch den National Book Award in der Kategorie Nonfiction. Anselm Bühling hat das Werk aus dem Englischen übersetzt.
In der Begründung der Jury heißt es:
"'Die Zukunft ist Geschichte' - wem wäre in den letzten Jahren nicht nur auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, nein, auch in Ferguson, Charlottesville, Washington, in Rom, Wien, Budapest, Warschau, Dortmund, Chemnitz und auch bei mancher Übertragung aus dem Bundestag nicht dieser Gedanke gekommen. Immer häufiger flackert das Feuer der Intoleranz auf, immer häufiger begleitet von Gewalt. Mancherorts entsteht ein Flächenbrand, der eine auf Respekt und Freiheit gründende gesellschaftliche Dynamik zu zerstören droht. In diesen schwierigen Zeiten überzeugt die Hingabe, die Dringlichkeit, die kraftvoll engagierte Intelligenz, mit der uns Masha Gessen als Autorin und auch als Bürgerin begegnet.
Vier Biographien hat sie ins Zentrum ihres eindrucksvollen 'umfangreichen faktografischen russischen Romans' gestellt, wie sie ihn selbst umschreibt: Vier junge Menschen in Russland, die an den Unfreiheiten der Putin'schen Politik leiden, deren Lebenswege an ihr zu zerbrechen drohen. Der emanzipatorische Aufbruch der neunziger Jahre wird erstickt, wenn nicht gewaltsam bekämpft. Gessens Hinweis auf das Fehlen des demokratischen Instrumentariums der postsowjetischen Gesellschaft schärft den Blick für die Erosion unserer eigenen demokratischen Institutionen, für die Gefährdung dessen, was wir stets als gesetzt angenommen haben.
Ein wichtiges Buch, unerbittlich, ergreifend und zugleich in seiner Analyse scharfsichtig. Die beständigen Angriffe auf Bürger- und Menschenrechte, die in ihm dokumentiert und beschrieben werden, sind in immer mehr westlichen Ländern ebenfalls zu verzeichnen. 'Die Zukunft ist Geschichte' spricht auch in dieser Hinsicht direkt zu uns. Ziel der Angriffe sind eben jene Werte und Überzeugungen, die jeglicher europäischen Verständigung zugrundeliegen müssen."
Die Preisverleihung an Masha Gessen fand zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 20. März 2019 im Gewandhaus zu Leipzig statt. Die Laudatio hielt der Historiker und Publizist Gerd Koenen.
Die Preisträgerin 2018: Åsne Seierstad
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2018 wird der norwegischen Autorin und Journalistin Åsne Seierstad für "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders" verliehen. Das Buch erschien 2016 beim Verlag Kein & Aber und wurde aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock übersetzt.
Åsne Seierstad gehört zu den renommiertesten Journalistinnen Skandinaviens. Als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2017 erschien ihr Bestseller "Zwei Schwestern: Im Bann des Dschihad".
In der Begründung der Jury heißt es:
"Die Lektüre von 'Einer von uns' lastet schwer. Åsne Seierstad schreibt seit vielen Jahren aus den Krisengebieten der Welt, aus Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien... Am 22. Juli 2011 aber ist sie in ihrem Heimatland und erlebt den Terroranschlag auf das Regierungsviertel von Oslo und das unfassbare Massaker auf der Insel Utoya. 77 Menschen sterben. Das alles geplant und ausgeführt von einem einzigen Mann, Anders Breivik. Sein Ziel: die 'Unabhängigkeit Europas'. Seine Feinde: der Islam und die 'radikalfeministische Agenda'.
'Einer von uns' ist der beeindruckende Versuch, zu verstehen. Åsne Seierstad zeichnet das Bild eines Mannes, dessen Leben sich über weite Strecken nicht bemerkenswert unterscheidet von dem Gleichaltriger. Und doch steigt er irgendwann aus und entscheidet sich, 'die Gemeinschaft so brutal wie möglich zu verletzen'. Mit einer Vielzahl von Mosaiksteinen setzt sie nicht nur Wahrnehmung und Gefühlswelt des Täters zusammen, sondern lässt auch die Familien der Opfer und die Überlebenden zu Wort kommen.
Entstanden ist ein dokumentarischer Roman, der erhellend auf der Grenze zwischen Bericht und Erzählung, zwischen Faktischem und Vorstellungskraft balanciert und einen gewaltigen Sog entwickelt. Er enthält allgemein Anwendbares über die bedrohliche Zeit, in der wir leben. Und doch liegt Åsne Seierstads Verdienst auch darin, uns mit dem ganzen katastrophalen Ausmaß des Geschehens zu konfrontieren, in dem sie uns die Tragödie des Einzelnen vor Augen führt. Ihr Buch lässt uns Fragen stellen, über Zugehörigkeit und Gemeinschaft und über die notwendigen Voraussetzungen für ein zugewandtes, würdiges Zusammenleben."
Der Preis wurde Åsne Seierstad anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 14. März 2018 im Gewandhaus zu Leipzig verliehen. Die Laudatio hielt die Journalistin und Autorin Verena Lueken.
Der Preisträger 2017: Mathias Enard
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2017 wird dem französischen Schriftsteller und Übersetzer Mathias Enard für seinen Roman "Kompass" verliehen. Das Werk wurde von Holger Fock und Sabine Müller übersetzt und erschien 2016 im Verlag Hanser Berlin.
In ihrer Begründung verweist die Jury darauf, dass die Zeit der großen gefährlichen Simplifizierungen über uns hereingebrochen ist - begleitet von einem Zynismus, der vor allem auf einem gründet: Unkenntnis. Die Erfolge der Populisten, das Umsichgreifen von Vorurteilen, die sich gegen alles vermeintlich Fremde richten, geben davon dramatisch Zeugnis. Besonders die arabische Welt fällt dieser Entwicklung zum Opfer. In einer Zeit also, in der wir allenthalben Spaltung und Hass erleben, tritt Mathias Enard als einzigartiger Vermittler auf, allerdings nicht als Prediger, sondern als leidenschaftlicher Orientforscher, der sich durch einen stupenden Kenntnisreichtum auszeichnet sowie durch literarische Sprachkraft. In einer Welt, in der sich Orient und Okzident zunehmend in einer Schockstarre aus Feindseligkeit, Angst, aus Drohung und Gegendrohung gegenüberstehen, schenkt er uns einen von großer menschlichen Anteilnahme geprägten Einblick in den arabischen Kulturraum. In seinem von Wissen sprühenden Roman "Kompass" zeigt er auf, wie die islamische, die christliche und jüdische Tradition ineinandergreifen. Und belegt den jahrhundertelangen Einfluss des Orients auf die europäische Kultur: Ohne den Orient können wir den Okzident nicht denken. Am Ende dieses großen melancholischen und doch weltzugewandten Romans, der eine literarische Feier unseres gemeinsamen kulturellen Erbes ist und zugleich die gegenwärtigen barbarischen Akte der Zerstörung im arabischen Raum heraufbeschwört, steht ein einfacher Satz, eine Widmung. Er lautet: "Für die Syrer".
Der Preisträger 2016: Heinrich August Winkler
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2016 wird dem deutschen Historiker Heinrich August Winkler für sein vierbändiges Opus magnum "Geschichte des Westens" verliehen, das 2015 mit dem Band "Die Zeit der Gegenwart" abgeschlossen wurde. Dem voraus gingen seit 2009 die Bände 1 bis 3 "Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert", "Die Zeit der Weltkriege.1914–1945" und "Vom Kalten Krieg zum Mauerfall", alle erschienen im Verlag C. H. Beck München. Aktuell liegt von H. A. Winkler auch ein Essay-Band unter dem Titel "Zerreißproben. Deutschland, Europa und der Westen" vor.
In ihrer Begründung verweist die Jury darauf, dass Winkler mit Augenmaß, enormer Sachkenntnis und singulärer Forschungsakribie und orientiert an den Ideen der Amerikanischen und der Französischen Revolution in der Geschichte des Westens eine Deutung des normativen Projekts der westlichen Werte unternommen hat, der Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, der Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie. In einer gewaltigen Zusammenschau von Staaten und Kontinenten beschreibt er klar und übersichtlich, umsichtig im Urteil und zupackend in den Formulierungen den jahrhundertelangen Kampf um die Umsetzung der menschenfreundlichen Errungenschaften von 1776 und 1789. Mit seiner souveränen Kunst, Analyse und Erzählung zu verbinden und die Vielfalt der Aspekte in eine überzeugende Synthese zu integrieren, leistet er einem breiten, historisch interessierten Publikum wertvolle Orientierungshilfe. Indem dieses Werk an die Strahlkraft des westlichen Projekts erinnert und dessen heutige Geltung immer wieder aufs Neue bekräftigt, ist es unverzichtbar gerade in Zeiten, in denen die Werte des Westens fragiler und angefochtener erscheinen denn je.
Der Preisträger 2015: Mircea Cărtărescu
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2015 wird verliehen an den rumänischen Autor Mircea Cărtărescu für seine "Orbitor"-Romantrilogie, deren letzter Band "Die Flügel" 2014 im Zsolnay Verlag in einer kongenialen Übersetzung von Ferdinand Leopold erschienen ist.
Die international besetzte Jury begründet ihr Urteil wie folgt: Dieses monumentale, exzessive und alle Grenzen sprengende Prosa-Werk ist zugleich Künstler-, Großstadt- und Weltroman, übersteigt aber die Realität auf surreale, halluzinatorische und visionäre Weise. Alle Erzählströme gehen vom Bewusstsein des Ich-Erzählers, Träumers und werdenden Dichters Mircea aus, in dessen Kopf Innen- und Außenwelt verschmelzen. Mirceas Selbst- und Spracherkundung weitet sich zur Welterkundung und zur kosmischen Phantasie. Vom Mikrokosmos seiner Herkunfts-, Familien- und Kindheitsgeschichte öffnet sich das Werk in den Makrokosmos des realen und des mythischen Bukarest, das als Zwangs- und Täuschungsort einer absurden und größenwahnsinnigen Diktatur erscheint.
Im Titel "Orbitor" klingt bereits der weltumspannende und weltumkreisende Anspruch der Trilogie an, die zahlreiche Wissens- und Sprachwelten streift, sich ins Metaphysische aufschwingt und schließlich ins Phantasmagorische und Apokalyptische ausschweift. Der Schmetterling - sein Körper und seine beiden weltbunten Flügel - bildet die Großmetapher der Trilogie. Er ist das Inbild für die Metamorphose und den unentwegten Gestaltwandel der Welt und dieses einzigartigen Universalromans.
Die Verleihung des Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2015 an Mircea Cărtărescu fand anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 11. März 2015 im Gewandhaus zu Leipzig statt. Die Laudatio hielt der Schriftsteller Uwe Tellkamp.
Der Preisträger 2014: Pankaj Mishra
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 wurde an den indischen Publizisten und Historiker Pankaj Mishra für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires verliehen. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens", 2013 in der Übersetzung von Michael Bischoff erschienen bei S. Fischer.
Die international besetzte Jury begründet ihr Urteil wie folgt:
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 wird dem indischen Publizisten und Historiker Pankaj Mishra für sein grundlegendes Werk "Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" zugesprochen, in dem er aus nicht-westlicher Perspektive die Suche asiatischer Intellektueller nach Antworten auf die Überwältigung durch den Westen analysiert. Faktenreich und farbig erzählt Mishra die Geschichte von Asiens Auflehnung gegen den westlichen Imperialismus und beschreibt die unterschiedlichen Reaktionen Asiens auf die Herausforderungen der westlichen Moderne. Am Beispiel dreier bahnbrechender Einflussfiguren und Wortführer stellt er die intellektuelle und politische Mobilisierung dar, die den Aufstieg Chinas und Indiens zu Weltmächten und den Erfolg des politischen Islam begründete. Es ist der nicht-europäische Blick auf den Westen, der Pankaj Mishras aufklärendes Werk für die Selbstverständigung Europas über die eigene Rolle in der heutigen Welt unentbehrlich macht.
Die Verleihung des Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 an Pankaj Mishra fand anlässlich der Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 12. März 2014 im Gewandhaus zu Leipzig statt.
Die Laudatio hielt der Schriftsteller, Übersetzer und Verleger Ilija Trojanow.
Der Preisträger 2013: Klaus-Michael Bogdal
Geboren 1948 in Gelsenkirchen (Deutschland)
lebt in Gevelsberg (Deutschland)
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2013 wird dem Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal für sein bahnbrechendes Werk Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung zugesprochen, in dem die seit sechs Jahrhunderten an-dauernde Verfolgung und Ausgrenzung der Romvölker in Europa untersucht wird. Indem Bogdal die Darstellung der Zigeuner, Gipsies, Bohémiens und Gitanos in der Literatur und Kunst vom Spätmittelalter bis heute zum ersten Mal umfassend im europäischen Vergleich analysiert, beschreibt er zugleich die allmähliche Verfertigung eines historischen Vorurteils gegen ein imaginäres Kollektiv, das mangels Schrift den Fremddeutungen, Zuschreibungen und Projektionen anderer hilflos ausgeliefert war. Bogdal zeigt, wie Europa den Grad der eigenen Kultiviertheit an der Abwertung der Roma im Spannungsfeld zwischen Hass, Abwehr und romantisierender Zigeuner-Folklore festmacht. Gerade angesichts eines neu aufbrandenden Anti-Ziganismus in Europa gewinnt Bogdals epochale Studie eine bedrückende Aktualität und Brisanz.
Der Preisträger 2012: Ian Kershaw
geboren 1943 in Oldham (Großbritannien)
lebt in Manchester (Großbritannien)
Aus der Menge der historischen Arbeiten zum Kriegsende ragt Ian Kershaws große Studie »Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45« in ihrer umfassenden Darstellung, tiefgreifenden Analyse und anschaulichen Schilderung hervor. Kershaw findet neue Antworten auf die Frage, warum die militärisch bereits besiegten Deutschen noch fast ein Jahr lang weiterkämpften und bis zur totalen Verwüstung des Landes durchhielten, und er legt anhand zahlloser einleuchtender Beispiele eine Fülle unterschiedlicher Ursachen für die Selbstzerstörung der Deutschen dar.
Der Preisträger 2012: Timothy Snyder
geboren 1969 in Ohio (USA)
lebt in New Haven (USA)
Genau recherchierte Daten über das deutsche und sowjetische Morden in der Mitte des 20. Jahrhunderts verbindet Timothy Snyder mit der Erinnerung an individuelles Leid. In seinem Werk »Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin« erweitert er unsere Vorstellung vom industrialisierten Massenmord, indem er Hunger und Terror als Todesursache für mehr als die Hälfte der Opfer in den Blick rückt. Dabei entgeht »Bloodlands« jederzeit der Gefahr des Abstumpfens: Hinter den unvorstellbaren Zahlen hält Timothy Snyder die Menschen und ihre einzelnen Schicksale stets sichtbar.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2012 wird zu gleichen Teilen an den britischen Historiker Ian Kershaw und an den US-Historiker Timothy Snyder verliehen. In ihren jüngsten Studien befassen sich beide Forscher mit dem Zweiten Weltkrieg, doch ist ihre jeweilige historische Fragestellung so unterschiedlich, dass die Werke einander vorzüglich ergänzen und als komplementär zueinander lesbar sind. Beide Werke verbindet auch, dass sie ein tieferes Verständnis Europas für seine eigene Schreckensgeschichte ermöglichen.
Der Preisträger 2011: Martin Pollack
geboren 1944 in Bad Hall (Österreich)
lebt in Wien und Bocksdorf (Österreich)
Martin Pollack wurde der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2011 für sein einprägsames und richtungsweisendes Œuvre zugesprochen, das im Dienste einer aufklärenden Geschichtspolitik vor allem die randständigen und lange vernachlässigten Regionen Osteuropas in den Blick nimmt. In seinen historischen Reportagen, die immer wieder um Galizien als Ausgangs- und Fluchtpunkt europäischer Katastrophen kreisen, wirft Martin Pollack, ausgehend von so unprätentiöser wie penibler Recherche und Archivarbeit, stets ein erhellendes Licht auch auf unsere Gegenwart. So untersucht er in «Kaiser von Amerika», seinem jüngsten Band von »creative non-fiction«, die große Massenflucht der Juden, Polen und Ukrainer aus Galizien und macht diese Völkerwanderung als Prototyp heutiger Migrationsströme mit ihrem Schlepperunwesen und Menschenhandel kenntlich. Als Übersetzer geschult an Ryszard Kapuściński pflegt Martin Pollack die Reportage als literarische Kunstform auf dem heiklen Grat zwischen Essayistik und Dokumentation - mit seiner Empathie immer darauf fokussiert, den namenlosen Opfern der Geschichte Name und Würde zuzuschreiben.
Der Preisträger 2010: György Dalos
geboren 1943 in Budapest (Ungarn)
lebt in Berlin (Deutschland)
György Dalos erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für „Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa“.
Seine differenzierte Darstellung der geschichtlichen Prozesse, die zur Implosion der kommunistischen Machtapparate in Polen, Ungarn, der DDR, der ČSSR, Bulgarien und Rumänien führten, besticht durch souveräne Faktenkenntnis, den Blick für das sprechende Detail und die Sicherheit im Urteil.
Mit reflexiver Vorsicht und nüchterner Ironie zeigt Dalos die großen Linien und die menschliche Dimension des Epochenwandels, die Politik der „Bruderstaaten“, die Abhängigkeiten der Machthaber, die Akteure der Opposition, die Dynamik der Massenerhebung - und schließlich auch die schweren Hinterlassenschaften, mit der die Nach-89er-Gesellschaften fertig werden mussten.
Der Preis ehrt einen engagierten Demokraten. György Dalos gibt der Idee der europäischen Verständigung als Romancier, Geschichtsschreiber und Essayist eine Stimme und dient ihr in herausragender Weise als Vermittler.
Der Preisträger 2009: Karl Schlögel
geboren 1948 in Hawangen (Deutschland)
lebt in Berlin (Deutschland)
Karl Schlögel erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für „Terror und Traum. Moskau 1937“.
Mit tiefem Respekt vor dem Unverständlichen macht sich der Autor an die akribische Erforschung und Vergegenwärtigung dieses Schreckensjahres. Schlögel stellt das Disparate heraus, misstraut jedem Denken, das Kausalität, Plan und Ordnung vermutet. Er liest die Omnipotenz der Staatsmacht als Ohnmacht, die Utopie als „Notstandsdenken“ und arbeitet so die extremen Gegensätze von Terror und Traum in ein Erzählen der Gleichzeitigkeit ein, das sich der Grenzen sprachlicher Vermittelbarkeit bewusst ist. Mit dem Perspektivenwechsel, den Korrespondenzen und den Sichtachsen, die er aufschließt, eröffnet sich ein neuer, ein räumlicher Blick auf einen der rätselhaftesten Schauplätze der jüngeren europäischen Geschichte.
Der Preisträger 2008: Geert Mak
Geboren 1946 in Vlaardingen (Niederlande)
lebt in Jorwerd (Niederlande)
Geert Mak erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein vielgestaltiges Werk, in dem er die Geschichte und Gegenwart Europas im 20. Jahrhundert erforscht und ausleuchtet. In seinen Beschreibungen einzelner und kollektiver Biographien macht er sozialökonomische Prozesse und kulturelle Veränderungen anschaulich sichtbar. Er verbindet historische Forschung mit der Position des Fragenden, Schauenden, Reisenden - und des kraftvoll Erzählenden. Amsterdam wird ihm zum Gegenstand der „Biographie“ einer Stadt; an seinem Heimatort Jorwerd demonstriert er das Verschwinden des Dorfes in Europa. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt er in „Das Jahrhundert meines Vaters“ als Familiengeschichte, in seinem opus magnum „In Europa“ als Zeitreise zu den Orten der Zerstörung und der Wiedergeburt unseres Kontinents. Geert Maks Werk zeigt uns die dissonante Vielstimmigkeit europäischer Erinnerung.
Gerd Koenen und Michail Ryklin erhalten den Preis zu gleichen Teilen. Beide formulieren ihre Hoffnung auf eine europäische Verständigung mit Russland, die frei von machtpolitischem Kalkül demokratischen und zivilen Prinzipien folgt.
Der Preisträger 2007: Gerd Koenen
Geboren 1944 in Marburg/Lahn (Deutschland)
lebt in Frankfurt/Main (Deutschland)
Gerd Koenen erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein Werk „Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945“. In seinem brillanten historischen Abriß zeichnet er die intellektuelle, literarische und politische Faszination nach, die der große östliche Nachbar auf die Deutschen ausübte. Seine Wiederentdeckung eines vergessenen Kapitels der überaus dichten und intensiven russisch-deutschen Beziehungsgeschichte vergegenwärtigt unsere Projektionen auf Russland wie auch unsere politische Verführbarkeit.
Der Preisträger 2007: Michail Ryklin
Geboren 1948 in Moskau (Sowjetunion)
lebt in Moskau (Russland)
Michail Ryklin erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für seine politische Fallstudie „Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ‚gelenkten’ Demokratie“. Als Augenzeuge, Mitbetroffener, als subtiler Analytiker der Angst und ihrer Funktion bei der Stabilisierung von Macht beschreibt er am Beispiel eines kafkaesken Prozesses gegen Künstler und Menschenrechtler in Moskau die autoritären Tendenzen des heutigen Rußland. Sein Buch beweist eindrucksvoll das Engagement des Intellektuellen, der sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlt und sie in seinem Land einfordert, wider alle Bedrohung, Einschüchterung und Ignoranz.
Der Preisträger 2006: Juri Andruchowytsch
Geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk (Sowjetunion, heute Ukraine)
lebt in Iwano-Frankiwsk (Ukraine)
Juri Andruchowytscherhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für seinen Roman "Zwölf Ringe", wo wir an einem der abgelegensten Orte der Karpaten von den Überlagerungen einer Gesellschaft im Transit erfahren. Wie in einer Zentrifuge werden hier Albtraum und Liebeshoffnung, Vergangenheit und Zukunft, Mythos und Magie kunstvoll durcheinander gewirbelt. Diese Verteidigung des "letzten Territoriums" an der Grenze zu Nichteuropa ist nicht nur eine eigenwillige Liebeserklärung an ein "großes europäisches Land", sie ist zugleich Einspruch und Selbstbehauptung gegen die Gewalt vergangener wie gegenwärtiger Geschichte. Andruchowytsch holt die vergessene Mitte des Kontinents in unser Bewusstsein zurück und macht uns klar, wo das Zentrum Europas liegt: am Rand.
Die Preisträgerin 2005: Slavenka Drakulić
Geboren 1949 in Rijeka (Jugoslawien, heute Kroatien)
lebt in Stockholm (Schweden), Wien (Österreich) und Sovinjak (Kroatien)
Slavenka Drakulić erhält die Auszeichnung für ihr Werk "Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht". Sie geht darin der quälenden Frage nach, wie aus Nachbarn Mörder werden können. Die furchtbaren Wahrheiten, die bei den Anklagen gegen die Organisatoren und Exekutoren der Kriege im ehemaligen Jugoslawien ans Licht kommen, veranlassen die Autorin auch zur Selbstüberprüfung ihrer eigenen Generation und deren Verstrickung in die Tragödie. Das Böse ist die Abwesenheit von Mitgefühl - mit dieser Erkenntnis steht ihr Buch in der großen Tradition des aufrüttelnden Journalismus von Emile Zolas "J´accuse" und Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess.
Der Preisträger 2004: Dževad Karahasan (Hauptpreis)
Geboren 1953 in Duvno (Jugoslawien, heute Bosnien-Herzegowina)
lebt in Graz (Österreich) und Sarajevo (Bosnien-Herzegowina)
Dževad Karahasan erhält den Hauptpreis für sein vielgestaltiges literarisches Werk, in dem Poesie und Philosophie, Tradition und Moderne, Ost und West kunstvoll miteinander verwoben sind. In seinen Romanen und Essays wird das Fremde im Eigenen lebendig, erhebt die Macht der Imagination Einspruch gegen Gewalt, Krieg und Vertreibung. Karahasans Werk steht in der besten Tradition der europäischen Aufklärung. Er setzt auf die zivilisierende Kraft der Toleranz, auf die Fähigkeit zum Dialog, auf den Widerstand des Wortes gegen die Barbarei.
Der Preisträger 2004: Gábor Csordás (Anerkennungspreis)
Der Preisträger 2003: Hugo Claus (Hauptpreis)
Geboren 1929 in Brügge (Belgien)
Gestorben 2008 in Antwerpen (Belgien)
Hugo Claus erhält den Hauptpreis für sein Gesamtwerk, in dem er immer wieder die Abgründe der modernen Zivilisation auf allen ihren Ebenen, die aus dem Inneren der Gesellschaft kommende Gewalt und die Heuchelei in der politischen Szene unbarmherzig und zugleich mit viel Sinn für das Groteske und Absurde schildert. Nach wie vor hat sein großer Roman "Der Kummer von Flandern", der die apokalyptische Dimension des Faschismus und der Kollaboration ausleuchtet, nicht an Aktualität verloren. Ihm gilt ganz besonders die Auszeichnung. Werk und Autor sind zu einem wichtigen Bestandteil des gesamten europäischen Gewissens geworden.
Die Preisträgerin 2003: Barbara Antkowiak (Anerkennungspreis)
Geboren 1933 in Berlin (Deutschland)
Gestorben 2004 in Berlin (Deutschland)
Barbara Antkowiak erhält den Anerkennungspreis für ihre langjährige und vielseitige Übersetzertätigkeit aus vielen mittel- und osteuropäischen Sprachen - vor allem aus dem Bulgarischen, Serbischen, Kroatischen, Slowenischen und Bosnischen -, die sie als hervorragende Kennerin und kompetente Vermittlerin ausweist.
Der Preisträger 2002: Bora Ćosić (Hauptpreis)
Geboren 1932 in Zagreb (Jugoslawien, heute Kroatien),
lebt in Rovinj (Kroatien) und Berlin (Deutschland)
Den Hauptpreis erhält Bora Ćosić für sein unverwechselbares Prosawerk, das sich gegen Unfreiheit, Nationalismus und rassistischen Haß richtet. Formal stets erfinderisch und experimentierend, überzeugend in seiner Sensibilität und der Fähigkeit, Weltgeschichte zu erzählen, indem er Schreckliches und Heiteres, Brisantes und Banales vermischt, bietet es ein facettenreiches Bild des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Vor allem "Die Zollerklärung", Bericht einer Auswanderung und Dokument der Emigration und des Heimatverlustes, ist von beklemmender Aktualität.
Der Preisträger 2002: Ludvík Kundera (Anerkennungspreis)
Geboren 1920 in Brno (Tschechoslowakei),
lebt in Kunstát (Tschechien)
Ludvík Kundera erhält den Anerkennungspreis für seine Verdienste als Übersetzer tschechischer und deutschsprachiger Literatur. In seinem Leben und Schaffen verbinden sich hoher literarischer Rang, politische Unbeugsamkeit und menschliche Integrität mit dem jahrzehntelangen Bemühen um Vermittlung zweier Literaturen in die jeweils andere Sprache zur Wiederbelebung des europäischen Gedankens. Die von ihm editierten Anthologien sind Schlüsselwerke deutsch-tschechischer Literaturvermittlung.
Der Preisträger 2001: Claudio Magris (Hauptpreis)
Geboren 1939 in Triest (Italien)
lebt in Triest (Italien)
Mit dem Hauptpreis wird Claudio Magris als bedeutender Vermittler deutschsprachiger Literatur in den italienischen Sprachraum, in ersten Linie aber als Schriftsteller und Publizist ausgezeichnet, der sein literarisches Werk einem kulturhistorisch bedeutsamen Raum im Südosten Europas gewidmet hat. Vor allem mit seinem Buch "Die Welt en gros und en détail" gelang ihm in überzeugender Weise, Fiktion zu einer literarischen Topographie der südlichen Regionen Ostmitteleuropas zu verschmelzen.
Der Preisträger 2001: Norbert Randow (Anerkennungspreis)
Geboren 1929 in Neustrelitz (Deutschland)
lebt in Berlin (Deutschland)
Norbert Randow erhält den Anerkennungspreis für seine langjährige und vielseitige Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer aus dem Bulgarischen, Russischen, Weißrussischen und Altkirchenslawischen, die ihn als hervorragenden Kenner und kompetenten Vermittler dieser Kulturen ausweist. Vor allem mit der Anthologie "Eurydike singt. Neue bulgarische Lyrik" hat er sich als einfühlsamer Übersetzer bulgarischer Lyrik erwiesen, deren Verständnis zu erleichtern und zu fördern sein hervorragendes Anliegen ist.
Die Preisträgerin 2000: Hanna Krall (Hauptpreis)
Geboren 1937 in Warschau (Polen)
lebt in Warschau (Polen)
Hanna Krall erhält den Hauptpreis für ihr bisheriges Gesamtwerk, besonders für den Erzählband "Da ist kein Fluß mehr", der durch seine hohe literarische Qualität neue Akzente setzt. Indem sie Geschichte durch Geschichten formt, leistet die Autorin einen gewichtigen Beitrag zur europäischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Folgen für die Überlebenden.
Der Preisträger 2000: Peter Urban (Anerkennungspreis)
Geboren 1941 in Berlin (Deutschland)
Gestorben 2013 in Weidmoos (Deutschland)
Peter Urban erhält den Anerkennungspreis für seine beispielhaften Übersetzungen aus verschiedenen slawischen Sprachen - aus dem Russischen, dem Tschechischen, Serbischen und Slowenischen -, aber auch für seine Werkausgaben, die ihn als herausragenden Vermittler slawischer Literatur und Kultur ausweisen.
Der Preisträger 1999: Eric J. Hobsbawm (Hauptpreis)
Geboren 1917 in Alexandria (Ägypten)
Gestorben 2012 in London (Großbritannien)
Eric J. Hobsbawm erhält den Hauptpreis für seine Werke zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, die immer auch Kultur- und Geistesgeschichte einbeziehen. Besonders wird damit sein großes Spätwerk "Das Zeitalter der Extreme" gewürdigt, das gleichermaßen wissenschaftliche Analyse und persönliches Resümee ist.
Der Preisträger 1999: Nenad Popović (Anerkennungspreis)
Die Preisträgerin 1998: Swetlana Alexijewitsch (Hauptpreis)
Geboren 1948 in Iwano-Frankiwsk (Ukraine),
lebt in Paris (Frankreich)
Swetlana Alexijewitsch erhält den Hauptpreis für ihre eindrucksvolle Dokumentarprosa. Ihr Mut, sich menschlichem Leid auszusetzen, ihre Sensibilität, mit der sie ihre Interviews zu literarischen Texten verdichtet hat, begründen den Rang ihrer Bücher als wichtige Zeitzeugnisse des Untergang der sowjetischen Gesellschaft.
Die Preisträgerin 1998: Ilma Rakusa (Anerkennungspreis)
Geboren 1946 in Rimavska Sobota (Tschechoslowakei, heute Slowakei), lebt in Zürich (Schweiz)
Ilma Rakusa erhält den Anerkennungspreis für ihre umsichtige Vermittlung russischer, ungarischer und serbokroatischer Literatur im deutschsprachigen Raum sowie für ihre vorzüglichen Übersetzungen bedeutender Autorinnen und Autoren aus dem Russischen, Französischen und Serbokroatischen.
Der Preisträger 1998: Andreas Tretner (Förderpreis)
Geboren 1959 in Gera (DDR, heute Deutschland),
lebt in Berlin (Deutschland)
Andreas Tretner erhält den Förderpreis für seine Belletristik- und Sachbuchübersetzungen aus dem Russischen und Bulgarischen, die von sensibler Auseinandersetzung mit dem Original und von einem souveränen Umgang mit der Sprache zeugen.
Der Preisträger 1997: Imre Kertész (Hauptpreis)
Geboren 1929 in Budapest (Ungarn)
lebt in Berlin (Deutschland) und Budapest (Ungarn)
Imre Kertész erhält den Hauptpreis für sein bisheriges Gesamtwerk, das eindringlich und mit großer künstlerischer Kraft die geistigen und existentiellen Folgen des Holocaust thematisiert. Seine kühne und konsequente Darstellung des Schicksals jüdischer Deportierter und des Lebens in Diktaturen ist ein beeindruckendes Zeugnis für die Schrecken dieses Jahrhunderts.
Der Preisträger 1997: Antonin J. Liehm (Anerkennungspreis)
Geboren 1924 in Prag (Tschechoslowakei, heute Tschechien)
lebt in Paris (Frankreich) und Prag (Tschechien)
Antonin J. Liehmerhält den Anerkennungspreis für sein Engagement als Journalist und Redakteur. Mit der Gründung seiner Zeitschrift "Lettre Internationale" hat er ein europäisches Forum geschaffen, das einen außerordentlichen Beitrag intellektuellen Austauschs über Sprach- und Ländergrenzen hinweg leistet.
Der Preisträger 1996: Aleksandar Tišma (Hauptpreis)
Geboren 1924 in Horgoš (Jugoslawien, heute Serbien)
Gestorben 2003 in Novi Sad (Serbien)
Aleksandar Tišma erhält den Hauptpreis für sein herausragendes Werk, das mit poetischer Klarheit und außergewöhnlicher Kraft die tragischen politischen Auseinandersetzungen während und nach dem zweiten Weltkrieg in der multi-ethnischen Vojvodina reflektiert. Vor dem Hintergrund eigenen Erlebens erzählt Tišma von Verletzungen und Verbrechen, die Menschen einander antun.
Der Preisträger 1996: Fritz Mierau (Anerkennungspreis)
Geboren 1934 in Breslau (Deutschland, heute Polen)
lebt in Berlin (Deutschland)
Fritz Mierau erhält den Anerkennungspreis als sensibler und kompetenter Vermittler der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Als Übersetzer, Autor und Herausgeber hat er sich auch unbekannter, insbesondere aber politisch unangepaßter Autoren und unbequemer Themen angenommen.
Der Preisträger 1995: Péter Nádas (Hauptpreis)
Geboren 1942 in Budapest (Ungarn)
lebt in Budapest (Ungarn)
Péter Nádas erhält den Hauptpreis für sein vielgestaltiges literarisches Werk, das mit subtiler Präzision menschliche Schicksale und Beziehungen vor dem Hintergrund der Epoche des Kommunismus in Mitteleuropa beleuchtet. Hervorzuheben ist sein Roman "Buch der Erinnerung", eine Gefühlsanalyse und zugleich innere Geschichte unseres von Ideologien geprägten Jahrhunderts.
Die Preisträgerin 1995: Swetlana Geier (Anerkennungspreis)
Geboren 1923 in Kiew (Sowjetunion, heute Ukraine),
Gestorben 2010 in Freiburg (Deutschland)
Swetlana Geier erhält den Anerkennungspreis für ihre langjährige und vielseitige Übersetzertätigkeit aus dem Russischen, die sowohl Klassikern als auch lebenden Autoren gilt. Swetlana Geier hat der Rezeption der russischen Literatur in Deutschland durch ihre sprachliche Gestaltungskraft eine neue Perspektive eröffnet.
Der Preisträger 1994: Eckhard Thiele (Anerkennungspreis)
Geboren 1944 in Garlipp (Deutschland)
lebt in Berlin (Deutschland)
Eckhard Thiele erhält den Anerkennungspreis, da er in vorbildlicher Weise zur Verbreitung der slawischen Literaturen im deutschsprachigen Raum beigetragen hat. Sein Wirken als Übersetzer, Herausgeber und Essayist gilt sowohl klassischen Werken als auch der Entdeckung neuer Autoren, die er mit großem persönlichen Engagement und Mut durchzusetzen half.
Der Preisträger 1994: Ryszard Kapuściński (Hauptpreis)
Geboren 1932 in Pinsk (Polen, heute Weissrussland)
Gestorben 2007 in Warschau (Polen)
Ryszard Kapuściński erhält den Hauptpreis für sein literarisches und journalistisches Schaffen, das er dem gegenseitigen Kennenlernen gewidmet hat. Hervorzuheben ist sein Werk "Imperium. Sowjetische Streifzüge", in dem er die unterschiedlichen Lebens- und Erlebenswelten der einzelnen Völker der ehemaligen Sowjetunion darstellt und verständlich macht.